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Räume schaffen, um Empathie und Solidarität zu ermöglichen

„Zäsur“ – am Anfang war das der Begriff. Art, Umfang und damit vermittelte Botschaften des am 7. Oktober 2023 von der Hamas verübten Terroranschlags waren von derart massivem Ausmaß, dass der Begriff der Zäsur passend erschien. Niemals könnte es wieder so sein wie zuvor. Der Terroranschlag mit genozidaler Botschaft, der zu dem größten zusammenhängenden Massenmord an Jüdinnen_Juden seit der Shoah führte, markiert(e) einen tiefen Einschnitt – und hätte als solcher, ausgereicht, um als Zäsur verstanden zu werden. Dazu kam die gigantische Zunahme antisemitischer Gewalt, die sich im Anschluss an das in Israel verübte Massaker weltweit ereignet(e). Auch dies eine Form der Täter-Opfer-Umkehr von fassungs- und hilflos machender Dimension.

Das wiederkehrende Erleben von Ignoranz, fehlender Anteilnahme. Auch das ist Teil der „Zäsur“ – wobei sich an dieser Stelle längst fragen lässt, ob der Begriff der Zäsur überhaupt noch angemessen ist.

Auf diese Erschütterung jüdischen Lebens, mit der die selbstverständliche Existenz jüdischen Lebens elementar in Frage gestellt wird, folgte hierzulande aber kein Aufschrei in der breiten Zivilgesellschaft, sondern das sogenannte laute Schweigen der nichtjüdischen Öffentlichkeit in Deutschland, das für Jüdinnen_Juden wiederkehrende Erleben von Ignoranz, fehlender Anteilnahme. Auch das ist Teil der „Zäsur“ – wobei sich an dieser Stelle längst fragen lässt, ob der Begriff der Zäsur überhaupt noch angemessen ist. In der Verwendung des Begriffs der Zäsur im Sinne eines Wendepunkts steckt die Möglichkeit des Innehaltens, Wahr- und Ernstnehmens, sich zu „schütteln“ und zu überlegen: was geht schief, was könnten, sollten wir hier bei uns anders machen. Dies geschah durchaus vereinzelt, in manchen zivilgesellschaftlichen Initiativen – aber es wurde nicht diskursbestimmend.

Von einer „Ruptur“ spricht Marina Chernivsky im Rahmen der Gedenkveranstaltung des internationalen Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2024.

Von einer „Ruptur“ spricht Marina Chernivsky im Rahmen der Gedenkveranstaltung des internationalen Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2024. Der Begriff beschreibe, „die Zerreißung eines inneren Organs, eines Muskels, eines Gefäßes, eines Bandes oder einer Sehne“ erklärt die Gründerin und Leiterin des Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung. Und ihr am 28. Januar in der Jüdischen Allgemeinen veröffentlichte Beitrag macht deutlich, dass nicht nur die „Qualität und das Ausmaß der gezielt und geplant ausgeübten Gewalt an der wehrlosen israelischen Bevölkerung“, sondern eben auch deren „globale Resonanz“ und das Ausbleiben einer breiten Unterstützung, einer konsequenten Hinwendung zu den von antisemitischen Bedrohungen und Übergriffen zu diesem Erleben/Empfinden (einer Ruptur) beiträgt.

„Die Räume für Jüdinnen_Juden werden immer enger“, berichtet die Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Hessen Susanne Urban. Die fortbestehende und weiterhin wachsende Gefahr antisemitischer Gewalt und Bedrohungen führt dazu, dass Jüdinnen_Juden sehr bewusst Orte wählen und sehr genau überlegen müssen, wo sie sich aufhalten und ihre jüdische Identität bedenkenlos offen leben können.

„Der 7. Oktober … fühlt sich an wie ein Riss, der mit dem Massaker der Hamas begonnen hat und sich seither mit Gewalt weiterzieht. Wie nennt man das Geräusch von langsam zerreißendem Papier?“

Wer nimmt diesen wachsenden Rückzug als bedeutsam wahr? Wer erkennt, welche Relevanz diese Infragestellung selbstverständlicher Zugehörigkeit für das demokratische Miteinander generell hat? Von einem „Riss“ spricht Dinah Riese anlässlich des ersten Jahrestages. „Der 7. Oktober … fühlt sich an wie ein Riss, der mit dem Massaker der Hamas begonnen hat und sich seither mit Gewalt weiterzieht. Wie nennt man das Geräusch von langsam zerreißendem Papier“, wirft die Journalistin in der taz.die tageszeitung eindrücklich die metaphotrische Frage auf. Sie nimmt die Leser*innen mit, an konkreten Beispielen wahrzunehmen, wie sich der „Riss“ durch ihr „Herz arbeitet“: durch eine mangelnde Sensibilität für die noch immer als Geiseln verschleppten oder wenige Tage vor dem Jahrestag von der Hamas brutal ermordeten Menschen, durch die Normalisierung rassistischer und antisemitischer Diskurse und durch das Ausbleiben bedingungsloser Solidarität auch von vermeintlichen Feministinnen nach der systematisch an Frauen und Mädchen verübten sexualisierten Gewalt der Hamas.

Es sollte selbstverständlich sein, Menschen, die angegriffen werden, solidarisch beizustehen und sich dafür konsequent einzusetzen, dass Taten gestoppt und Teilhaberechte gewahrt werden.

Ausmaß und Penetranz der antisemitischen Gewalt können sprach- und hilflos machen. Auch die davon nicht unmittelbar negativ Betroffenen Beteiligten, die Zeug*innen. Insbesondere in einer Gesellschaft, die als postnationalsozialistische noch immer auf unbearbeiteten Gefühlserbschaften sitzt, die zu einer beschämten Lähmung oder – und nicht zu selten – zu einer Schuldabwehr führen kann, der sich wiederum sehr häufig in einem israelbezogenen Antisemitismus entlädt. Sich damit auseinanderzusetzen ist anstrengend. Es nicht zu tun, aber auch. Aus der Arbeit konstruktiver Konfliktbearbeitung wissen wir, dass kalte Konflikte sehr viel Energie kosten und dass sich in einer – auch hitzigen Auseinandersetzung Kraft schöpfen lässt. Von der Chance „willentlicher Selbstbeunruhigung“ spricht Volkhard Knigge. Für den Historiker und ehemalige Direktor der Stiftung Gedenkstätte Buchenwald ist eine konsequente und nicht abschließbare Auseinandersetzung „an historischen Erfahrungen ein Lebenselixier für Demokratie und demokratische Kultur.“

Es sollte selbstverständlich sein, Menschen, die angegriffen werden, solidarisch beizustehen und sich dafür konsequent einzusetzen, dass Taten gestoppt und Teilhaberechte gewahrt werden. Das wiederkehrende Erleben, dass sich im Umgang mit dem 7. Oktober diese Selbstverständlichkeit nicht vollzieht, wird Auswirkung auf das demokratische Zusammenleben aller in der Gesellschaft in Deutschland lebender Menschen und das solidarische Miteinander insgesamt haben.

Eine Atmosphäre, in der die massive Bedrohung scheinbar achselzuckend hingenommen wird, durch die eine selbstverständliche Zugehörigkeit permanent in Frage gestellt wird, ist mit einer an der Kinderrechten orientierten Demokratiepädagogik nicht vereinbar.

In der Menschenrechtspädagogik sprechen wir von drei Ebenen des Lernens: durch, über und für Menschenrechte. Zum Lernen im Sinne eines „Handelns für Kinder- und Menschenrechte“ gehören der Zugang zu Informationenüber das Recht darauf, Rechte zu haben und das garantierte Erleben, im Sinne der Kinderrechtskonvention behandelt zu werden. Eine Atmosphäre, in der die massive Bedrohung scheinbar achselzuckend hingenommen wird, durch die eine selbstverständliche Zugehörigkeit permanent in Frage gestellt wird, ist mit einer an der Kinderrechten orientierten Demokratiepädagogik nicht vereinbar. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist komplex. Die von RIAS und Anderen beschriebene Infragestellung selbstverständlichen jüdischen Lebens aber ist sehr konkret und leicht zu verstehen. Waren in den ersten Monaten nach dem Terroranschlag und den weitergehenden Terroraufrufen der Hamas vor allem antisemitische Raummarkierungen in Hessen zu beobachten, kommt es nun zunehmend zu physischen Bedrohungen und Übergriffen. Dem etwas entgegenzusetzen und sich als solidarisch Handelnde erleben zu können, ist eine wesentliche und wichtige Erfahrung, aus der sich Vertrauen in demokratische Verhältnisse schöpfen lässt.

Wir wollen daher alle Pädagog*innen dazu ermuntern, ihre Perspektive zu weiten und sich in ihrer Aufmerksamkeit auf das Ermöglichen und Erleben solidarischer Aktionen zu konzentrieren.

Im Sinne einer Menschenrechtspädagogik ist es von zentraler Bedeutung, dass Kinder und Jugendliche, sich auch in herausfordernden Zeiten als dem Anderen zugewandte Subjekte erleben können. Wir wollen daher alle Pädagog*innen dazu ermuntern, ihre Perspektive zu weiten und sich in ihrer Aufmerksamkeit auf das Ermöglichen und Erleben solidarischer Aktionen zu konzentrieren. Dabei können Beteiligte, aber auch Betroffene, Motoren sein und der Gewalt etwas Solidarisches entgegensetzen. Z. B. wie in dem Kinderbuch „Für jeden ein Licht. Ein Bilderbuch gegen den Antisemitismus“ von Lee Wind und Paul Zelinski beschrieben. Hier ergreift der von einem antisemitischen Übergriff betroffene Junge die Initiative, der sich seine Freundin und später viele Akteure des Gemeinwesens anschließen.

In der berechtigten Empörung über die fehlende Solidarität der nichtjüdischen Zivilgesellschaft gerät häufig aus dem Blick, wie viel solidarisches Handeln innerhalb der vielfältigen jüdischen Community geschieht.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, kritisch zu prüfen, wie wir was wahrnehmen. In der berechtigten Empörung über die fehlende Solidarität der nichtjüdischen Zivilgesellschaft gerät häufig aus dem Blick, wie viel solidarisches Handeln innerhalb der vielfältigen jüdischen Community geschieht. Die Initiativen und Aktionen der Gemeinden, Vereine, Beratungs- und Bildungseinrichtungen ermöglichen, dass jüdisches Leben in Deutschland weiter existieren kann. Aus diesen Strukturen heraus sind beispielsweise die Beratungsstrukturen von OFEK entstanden. Das Wort „Ofek“ ist hebräisch und bedeutet „Weite“ oder „Horizont“. Darin drückt sich der die Handlungsfähigkeit stärkende Ansatz der Arbeit aus. Durch die Unterstützung der Beratung bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung soll sich ein Horizont über das Ereignis hinaus eröffnen können. Von Anfang an unterfinanziert stützen staatliche Fördermittel mittlerweile eine anlassbezogene Beratung in der Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorfällen. Diese nehmen auch nichtjüdische Menschen in Anspruch. Die Notwendigkeit einer anlassunabhängigen, psychosozialen Beratung von Jüdinnen_Juden, in denen mit dem Terroranschlag der Hamas und seinen Folgen transgenerationale Traumata aufgebrochen sind, wurde bisher als nicht förderwürdig erkannt. Die Nachfrage ist groß. Ein jüdisches Therapeut*innen-Team hat sich bei OFEK zusammengefunden, um diese – bisher nur von Spenden getragene und daher oft ehrenamtliche -Arbeit zu leisten.

Das Wort „Ofek“ ist hebräisch und bedeutet „Weite“ oder „Horizont“.

OFEK unterstützen kann man mit einer Spende (bitte „Spende“ als Verwendungszweck angeben):

OFEK
Berliner Sparkasse
IBAN: DE29 1005 0000 0190 9049 41
BIC: BELADEBEXXX

Die Folgen des 7.Oktobers für jüdisches Leben in Deutschland aus einer kinderrechtlichen Sicht

Der 7. Oktober 2023 stellt eine Zäsur dar. Das an jüdischen Zivilisten in Israel verübte Massaker, bei dem über 1200 Menschen ermordet und fast 250 Menschen – darunter Babys, Kinder, Jugendliche, Senior:innen – als Geiseln verschleppt wurden ist eine unfassbar grausame Tat. Es gibt vielfältige Gründe dafür, diesen Angriff und die Folgen als unhintergehbaren Einschnitt für jüdisches Leben weltweit zu begreifen, als eine unfassbare Erschütterung, einzigartig und schwerwiegend in seinem Ausmaß – wie es seit der Shoah bisher nicht passiert ist. Die Anschlüsse an die Erinnerungen der Shoah sind von den Tätern bewusst verursacht.

Gewalt und Traumatisierung

Die Wahl des Tages und die Brutalität der Gewalt lösen Erinnerungen aus und haben für Nachkommen der Shoah-Überlebenden, die von transgenerationaler Weitergabe der Traumata betroffen sind, retraumatisierende Wirkung.
In der Gewalt drückt sich auf massive Weise ein Vernichtungs-Antisemitismus aus. Die Hamas machte deutlich, dass sie Jüd:innen das Recht auf Leben abspricht. Die Berichte von der die Würde der Betroffenen in einer kaum aussprechbaren Weise verletzenden, exzesshaften Form, markieren einen Einschnitt. Das Geschehen kann sprachlos machen.
Die Reaktionen weltweit und auch in europäischen und deutschen Städten darauf lassen einen zunächst entsetzt und fassungslos zurück – u. a. wenn mehrere Tage lang spontan Menschen in großen Demonstrationen zusammenkommen, um die Taten zu bejubeln. Eine Lähmung entstand. Solidarität mit Jüd:innen blieb aus.

Fehlende Anteilnahme

Das Gefühl selbstverständlicher Zugehörigkeit, das Vertrauen, sich selbstverständlich sicher und geschützt zu fühlen, wurde Jüd:innen in Deutschland durch diese fehlende klare Anteilnahme entzogen. Eine massive Erschütterung, die bleiben wird, auch wenn Einzelne die Lähmung überwinden. Schon deshalb, weil es trotz des Massakers zu einem massiven Anstieg antisemitischer Gewalt kommt. Hochschulen, Schulen, Wege im öffentlichen Raum, Freizeitveranstaltungen … all diese sind für Jüd:innen (in Deutschland) zu unsicheren Orten geworden. Das hat unmittelbar Folgen für alle in Deutschland lebenden Jüd:innen.

Jüdische Kinder und Jugendliche können nicht mehr von all ihren Menschenrechten Gebrauch machen

Aus einer kinder- und jugendrechtlichen Perspektive gilt es festzustellen, dass dadurch eine Vielzahl konkreter Rechte jüdischer Kinder und Jugendlichen betroffen sind. Verletzt werden oder in Kauf genommen wird, dass sie von ihren Rechten nicht selbstverständlich Gebrauch machen können. Z. B. von ihrem Recht auf Bildung, da es vielen Schulen nicht gelang und vielleicht auch immer noch nicht gelingt, sie zu einem für Jüd:innen sicheren Ort zu gestalten und zu vermitteln, dass sie einen entsprechend achtsamen Umgang mit den Verletzungen garantieren können. Zum Recht auf Bildung kommt das Recht auf Freizeit und Erholung und selbstverständlicher Teilhabe im Gemeinwesen. Auch hier fehlen vielerorts entsprechende Auseinandersetzungen, die jüdischen Familien das Gefühl geben könnten, auch an nicht-jüdischen Orten sicher und geschützt zu sein. Diese Verunsicherung hält an, besteht bereits seit zwei Monaten und verknüpft sich mit Erfahrungen, die ein unbeschwertes Lebensgefühl erschüttern konnten: die Verunsicherung, die ausgelöst wurden durch den Anschlag in Halle, die Zunahme antisemitischer Angriffe im Zuge der Corona-Pandemie und davorliegenden Ereignissen, in denen sich Antisemitismus artikulierte, aber häufig nicht entsprechend ernst- und wahrgenommen wurde.

Dauerhafte Belastungen und Hemmung von Entwicklungsrechten gemäß Landesverfassung

Diese dauerhaften Belastungen tangieren das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit und gefährden das Recht auf Entwicklung, das jedem Kind und Jugendlichen zusteht und ein Wesenskern der UN-Kinderrechtskonvention darstellt. Dies ernst zu nehmen und handlungsleitend zu machen, ist das Mindeste was wir, die wir die Kinderrechte mit einer überzeugenden Formulierung 2018 in die hessische Landesverfassung aufgenommen haben, tun können. Es gilt festzustellen, dass wir in Hessen gerade massiv die Rechte jüdischer Kinder und Jugendlicher verletzen und dass dies ein nicht hinzunehmender Zustand ist. Und zwar ohne ein „Ja, aber…“ Es gibt dazu keine Einschränkung. Es passiert. Man muss es benennen und Strategien entwickeln, die geeignet sind, diesem Missstand zu begegnen.

Betroffene deutlicher in den Blick nehmen

Und da sind wir bei einem weiteren Punkt: es fehlt so oft an Klarheit, zu benennen, was passiert. Wodurch der Eindruck entstehen kann, dass jüdische Opfer nicht zählen.
Welchen Wesensgehalt hatte das Massaker der Hamas? Wer wurde wie ermordet, gequält? Wessen Körper wurden geschändet? Es ist schon bemerkenswert, wie lange es braucht, bis ein öffentliches Interesse daran entsteht, die Betroffenen, ihre Hintergründe und Biografien in den Blick zu nehmen. „Every name counts“ eine zunehmend selbstverständliche Praxis in der Begleitung von Terror- Anschläge blieb hier zunächst aus – und muss sich ein Ernstnehmen immer wieder erstreiten.

Angriff auf ein plurales Zusammenleben

Wen oder was hat die Hamas angegriffen: ein Kibbuz, in denen Friedensaktivist:innen lebten, die nicht selten Menschen aus Gaza aufnahmen, um ihnen Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen. Junge Menschen, die sich auf einem friedlichen Festival trafen, nicht darauf vorbereitet, dass sie brutal überfallen, gejagt und ermordet oder verschleppt werden könnten. Überraschend wenig steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung: wer die Hamas ist, um was es ihr geht, worin ihr Terror besteht? Es ist auch ein Angriff auf ein plurales modernes Zusammenleben. Es ist der Ausdruck eines eliminatorischen Antisemitismus und in der Art des Angriffs zeigt sich die genozidale Gewalt, die bereits in der Charta der Hamas formuliert und zu deren Umsetzung die Hamas ihre Anhänger weltweit auffordert.
Und das Massaker am 7. Oktober war auch ein Femizid. Die Brutalität der Gewalt an Frauen, die Verachtung und Entmenschlichung, die sich in den Taten zeigt, steht nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, wird ausgeblendet, nicht benannt und entsprechend problematisiert. Sie bleibt unsichtbar, sogar am weltweiten Aktions-Tag gegen Femizide.

Empathielosigkeit begegnen

„Die Neunjährige flüstere nur noch. Sie weine sich jeden Abend in den Schlaf. Sie kann nicht aufhören zu weinen. Sie hat Strategien entwickelt, damit allein klar zu kommen, 50 Tage verschleppt, eine – insbesondere für ein Kind – sehr lange Zeit… der Vater berichtet, dass er sie nicht trösten kann, sie lässt es nicht zu.“ Ein Einblick in die Erfahrungen der Angehörigen, deren Kinder freigelassen wurden, einem Bericht der taz- die tageszeitung am 29.11.2023 entnommen.
Projekte in Schulen, in Nachbarschaftszentren, vor Kirchengemeinden – überall an Orten, wo Menschen zusammenkommen und gemeinsam Erfahrungen und Erschütterungen teilen – wären von Anbeginn möglich gewesen. Jüdische Gemeinden hatten sehr schnell Hintergründe zu den als Geiseln verschleppten Menschen zusammen- und Portraits zum Ausdrucken bereitgestellt. Es gibt vielfältige Möglichkeiten einen Bezug herzustellen und sich der Kampagne der Angehörigen der Geiseln anzuschließen: „Bring them home“ Kind- und altersgerecht lässt sich das rahmen und so Kindern und Jugendlichen einen Zugang ermöglichen, mit dem Unfassbaren Kontakt aufzunehmen, eine solidarische Geste zu zeigen und sich als handelnde zu erleben. Die Möglichkeit besteht weiterhin und wird vielleicht auch zunehmend in Anspruch genommen.
Leichter fällt es sicher dort, wo es bereits eine Praxis gibt, jüdisches Leben in seiner ganzen Vielfalt sichtbar zu machen und Antisemitismus wahr- und ernst zu nehmen. Leider fehlt diese Praxis aber an vielen Orten. Hier zeigen sich die Fehlstellen einer postnationalsozialistischen Gesellschaft, die eine angemessene Bearbeitung der bestehenden Gefühlserbschaft noch immer vermissen lässt.

Vielfältige jüdische Perspektiven

Die gegenwärtigen Herausforderungen könnten zum Anlass genommen werden, dem zu begegnen. Das hieße anzuerkennen, wo Unsicherheiten bestehen, diese aufzugreifen und Handlungsroutinen in Frage zu stellen. Sich einzulassen und die vielfältigen, insbesondere von jüdischen Wissenschaftler:innen u. a. im Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung entwickelten Expertisen zu nutzen. Es hieße anzuerkennen, dass es vielfältige jüdische Perspektiven in Deutschland gibt und engagiert dafür zu streiten, dass diese auch irgendwann wieder die Möglichkeit haben werden, sich in ihrer Vielfältigkeit zu erleben. Schon vor dem 7. Oktober wiesen jüdische Aktivistinnen und Fortbildnerinnen mit Bedauern daraufhin, dass sie nicht dazu kommen, zu diesen Themen – wie von ihnen geplant – arbeiten zu können und stattdessen weiterhin vor allem ihre Stimme in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus hörbar machen zu müssen.

Beratungsstelle OFEK unterstützen: Spendenaufruf

Vor allem aber heißt es im Moment, anzuerkennen, dass wir gerade eine massive Welle antisemitischer Vorfälle, An- und Übergriffe erleben – wie die Berichte der Recherche und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) verdeutlichen – und dass davon Jüd:innen massiv betroffen sind. Spezifische Beratungsstellen sind überlastet und schlecht ausgestattet. Darauf wies die Leiterin des Kompetenzzentrums und Geschäftsführerin von OFEK e. V. – Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung Marina Chernivsky kürzlich in einem Podcast des Bundesverbandes der Opferberatungsstellen (VBRG) hin. Sie finanziell zu unterstützen, ist eine erste kleine praktische Sache, die uns möglich ist.

Daher starten wir einen Spendenaufruf für OFEK. Die Beratungsstelle OFEK mit Sitz in Berlin hat in u. a. auch in Hessen Beratungsangebote für den Umgang mit Antisemitismus. Unterstützt werden Betroffene, aber auch Zeug:innen antisemitischer Vorfälle. Hinzu kommt die fachliche Beratung von Institutionen nach antisemitischen Vorfällen. In Folge des 7.Oktobers hat der Bedarf an konkreter Begleitung der von Antisemitismus Betroffenen stark zugenommen und daher sind die Zeiten der Hotline ausgeweitet worden.

Hier geht’s zum Spenden!

Covid19 und globale Ungleichheit

Brandbeschleuniger, Brennglas, Katalysator – so wurde die Wirkung der Covid19-Pandemie auf soziale und globale Ungleichheit vielfach beschrieben. Für Arbeiter:innen, die in Ländern des Globalen Südens am Anfang der globalen Wertschöpfungskette arbeiten, bedeutete dies u.a. Einbehaltung ihrer Löhne, fristlose Kündigungen oder unbezahlten Zwangsurlaub. In den USA waren vor allem Schwarze US-Amerikaner:innen von Covid19 betroffen[1] und in Deutschland breitete sich das Virus wesentlich schneller in engen Wohnsiedlungen aus in wohlhabenderen Vierteln aus. Nicht nur die Vulnerabilität minorisierter und marginalisierter Gruppen weltweit erhöhte sich durch die Pandemie. Auch das Gefälle zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden z.B. in Hinblick auf Impfgerechtigkeit spitzt sich zu. Unter der Verschärfung der miteinander verwobenen Krisendynamiken (Klimakrise, ökonomische Krise, Covid-19 Krise) leiden vor allem diejenigen, die bereits vor der Covid-19 Pandemie unter dem Normalzustand litten: der Normalzustand eines auf Rassismus, Sexismus und allen anderen Ungleichheits- und Machtverhältnissen basierenden Wirtschaftssystems, das die Natur und Menschen ausbeutet.

Während der Brennglaseffekt der Pandemie relativ bald festgestellt wurde, wurden die weitreichenden Auswirkungen auf die Lebenssituation von Kindern lange übersehen. Auch wenn Kinder in geringeren Maßen schwer erkranken, sind sie weltweit besonders von der Pandemie betroffen. Ihr Recht auf Gesundheit im Sinne der Gewährleistung eines vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens wurde durch die Corona Maßnahmen eingeschränkt bzw. nicht vorrangig berücksichtigt. Für Kinder, die bereits vor der Pandemie in besonders vulnerablen Umständen lebten, nahm die Gefährdung durch häusliche Gewalt und Missbrauch stark zu, während sich Möglichkeiten der Intervention durch Lehrer:innen oder das soziale Umfeld verringerten. Eine Studie der Welthungerhilfe, in der 16.000 Menschen in 25 Ländern des Globalen Südens befragt wurden, zeigt, dass gut 40% der Befragten weniger und schlechtere Nahrung hatten als vor der Pandemie. Und zwei Drittel der Befragten geben an, dass die Kinder in ihrem Haushalt als Folge der Pandemie einen schlechteren Zugang zu Bildung hatten. Unicef berichtet, dass ein Drittel aller Kinder während der Schulschließungen keinen Zugang zu Fernunterricht hatte, das sind 463 Millionen Kinder. Aufgrund der Verschlechterung der Lebenssituation vieler Familien schätzt das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, dass mindestens 24 Millionen Kinder nach der Pandemie nicht in die Schule zurückkehren werden.

Ein erweiterter Blick auf die Covid 19 Krise zeigt: die Pandemie ist teilweise menschengemacht. Denn im Anthropozän, der neuen erdgeschichtlichen Epoche, in der der Einfluss des Menschen auf unseren Planeten so groß ist, dass er als geologische Kraft definiert wird, steigt die Wahrscheinlichkeit von Pandemien. Jährlich verschwinden weltweit 10 Millionen Hektar Wald, eine Fläche so groß wie Bayern und Baden-Württemberg. Sie weichen Sojafeldern, Palmölplantagen und Rinderfarmen. Die Vernichtung von abgeschlossenen Ökosystemen, wie Regenwäldern und die damit einhergehenden schrumpfenden Lebensräume gehen mit Verhaltensänderungen von Tieren einher, sie wandern in neue Gebiete oder nähern sich Menschen an, was wiederum das Risiko der Übertragung von Krankheiten von Tieren auf Menschen erhöht. Beispiele dieser Zoonosen – also Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden – gibt es bereits viele: Ebola, Schweinegrippe, Vogelgrippe, SARS. Die weltweite Ausbeutung der Natur, Erschließung neuer Agrarflächen für unseren Fleischkonsum oder die Förderung von Rohstoffen im Bergbau für unsere elektronischen Geräte zerstören den Planeten. Vor allem der Lebenswandel des Globalen Nordens und sein Hunger nach Rohstoffen verschlingt die Waldflächen. Der „Land-Fußabdruck“ der Europäischen Union beträgt schätzungsweise 640 Millionen Hektar pro Jahr, also eineinhalb Mal so viel wie die Fläche aller 28 Mitgliedstaaten[2] und Deutschland ist fünftgrößter Rohstoffverbraucher weltweit (AK Rohstoffe 2020)[3].

Die Ursachen des gegenwärtigen Krisenszenarios hängen somit elementar mit der Ausbeutung unseres Planeten zusammen. Die Pandemie hat gezeigt, dass es nicht ausschließlich darum gehen kann, gegen die „Klimakrise“ vorzugehen oder um Nachhaltigkeitspolitik, weil unser Handeln alles Leben auf der Erde gefährdet, auch die Existenz unserer Spezies. Was wir brauchen ist ein grundsätzlicher Wandel, der die Beendigung der Zerstörung von Ökosystemen, die Herstellung von mehr globaler und sozialer Gerechtigkeit und den Wandel unserer Denkmuster beinhaltet.

Kinder, die kommenden Generationen, sind diejenigen, die gegen die Kurzsichtigkeit der Erwachsenen Stellung nehmen und uns zum verantwortlichen Handeln zur Rettung des Planeten antreiben. Gleichzeitig sind sie auch diejenigen, deren Interessen hinsichtlich der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid 19 Pandemie bislang am wenigsten Berücksichtigung finden. Ein skandalöser Zustand. Denn weder verfehlte klimapolitische (wie der historische Erfolg der Klima-Verfassungsbeschwerde gezeigt hat) noch krisenpolitische Entscheidungen zu Covid-19 Pandemie dürfen ihr Recht auf Zukunft verletzen. Dies könnte eine der wichtigsten Lektionen aus der Pandemie sein: wir benötigen eine generationengerechte und kinderrechtsbasierte Ausrichtung und Umsetzung aller wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Maßnahmen, die getroffen werden, um eine gerechtere und nachhaltigere Welt für alle Menschen zu schaffen.

Landesschulsprecherin Jessica Pilz im Portraitband „Wie geht es Euch? – Sechs junge Menschen aus Hessen über ihr persönliches Erleben der Corona-Pandemie“ Hessisches Ministerium für Soziales und Integration (Hrsg.), September 2021

Doch wie können wir einen solchen Wandel erreichen? Globales Lernen als pädagogisches Konzept kann Impulse für diesen notwendigen Wandel setzen. Lernende werden durch Globales Lernen zu einem Denken in globalen Zusammenhängen angeregt, indem lokale und globale Phänomene und Prozesse zueinander in Beziehung gebracht und interpretiert werden. Im Fokus stehen dabei u.a. Fragen globaler sozialer Gerechtigkeit und Solidarität, sowie der Einfluss des eigenen Handelns auf die Lebenssituation von Menschen weltweit. Es arbeitet mit interaktiven Methoden, die diese Themen erfahrbar machen und zur Reflexion der eigenen Rolle in der globalen Matrix der Ungleichheit befähigen. Eine Stärke von Globalem Lernen besteht darin aufzuzeigen, dass gesellschaftliche Verhältnisse gestaltbar und damit veränderbar sind. Globales Lernen will zum Handeln animieren und zur demokratischen Mitbestimmung. Wir brauchen Lernprozesse, die uns aus alten Denkmustern ausbrechen und neue Perspektiven einnehmen lassen, die uns scheinbare Unmöglichkeiten denkbar machen lassen und unsere Werte transformieren.

Ein System kann nicht von heute auf morgen verändert werden – vor allem keins, das seit Jahrhunderten besteht und seit Jahrhunderten auf die Produktion von Ungleichheit gründet. Aber wir müssen mit dem Wandel beginnen – am besten heute noch.


[1]     Cassidy, Alan (2020): Tödliche Ungleichheit. Rassismus und Corona, Süddeutsche Zeitung, 10. April 2020, URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-usa-schwarze-sterberate-1.4872535 (letzter Abruf: 17.09.2020).

[2]    Heinrich-Böll-Stiftung, Institute for Advanced Sustainability Studies,Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland,  Le Monde diplomatique (2015): Bodenatlas, URL: https://www.slu-boell.de/sites/default/files/bodenatlas2015.pdf (letzter Abruf: 17.09.20202), Seite 24.

[3]     http://ak-rohstoffe.de/wp-content/uploads/2020/05/Rohstoffwende.pdf (letzter Abruf: 17.09.2020).

„Gehört werden“ muss gelernt werden…

 „Ich werde in der Wohngruppe gemobbt und meine Betreuer nehmen mich nicht ernst. Könnt ihr mir helfen?“ (Junger Mensch, 14 Jahre)

„Mein Jugendamt verbietet mir, 3 Wochen meinen Bruder in Frankreich zu besuchen. Wenn ich fahre, soll meine Jugendhilfe beendet werden. Kann das sein?“ (Junger Mensch, 19 Jahre)

„Obwohl im letzten Hilfeplan anders besprochen, hat mir mein Jugendamt jetzt mitgeteilt, dass meine Hilfe zum Ende des nächsten Monats beendet wird. Was kann ich jetzt tun?“ (Junger Mensch, 17 Jahre)

„Mein Vormund sagt, ich muss mein angespartes Geld für meinen Führerschein verwenden. Ist das richtig?“ (Junger Mensch, 17 Jahre)

„Mit unserem Pflegekind ist es im Moment sehr schwierig. Das Jugendamt meint, es gebe keine Möglichkeit für weitere ambulante Hilfen. Unser Pflegekind soll jetzt in eine stationäre Jugendhilfe, obwohl sie das nicht möchte“ (Pflegeeltern eines 13-jährigen Pflegekindes)

„Mein Antrag auf eine Hilfe zur Erziehung wird nun seit mehreren Monaten nicht bearbeitet. Mein Sohn muss nun schon wieder in die Kinder- und Jugendpsychiatrie, da sich die Situation zu Hause erneut wieder verschlimmert hat. Können Sie uns unterstützen?“ (Alleinerziehende Mutter eines 11-jährigen Sohnes)

Anfragen dieser Art erreichen uns seit der Gründung des Vereins Ombudsstelle für Kinder- und Jugendrechte in Hessen e. V. im Jahr 2016 inzwischen fast täglich.

Unsere Arbeit besteht zunächst einmal darin, zuzuhören. Oftmals gibt es auch schon ganz konkrete Fragen von jungen Menschen und Ratsuchenden. Ein Hauptbestandteil unserer Tätigkeit besteht dann im Informieren und Beraten über Rechte und Pflichten im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe. Dort, wo es nötig und gewünscht ist, begleiten wir junge Menschen auch aktiv. Beispielsweise zu Hilfeplangesprächen mit öffentlichen Trägern oder wenn es um Konflikte in der stationären Einrichtung geht, und sich junge Menschen mit ihren Anliegen nicht „gehört“ fühlen. Die Arbeit in der Ombudsstelle ist so vielfältig wie die Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe selbst. Allen Anfragen gemein ist, dass junge Menschen und deren Familien häufig wenig Kenntnisse über die ihnen zustehenden Rechte haben.

Ein zweiter zentraler Punkt ist, dass sie sich in den meisten Fällen von den Mitarbeiter*innen der Jugendhilfe in den Einrichtungen und/oder der öffentlichen Jugendhilfe nicht gehört und ernst genommen fühlen. Oft berichten uns junge Menschen und Familien, dass sie sich auch nicht trauen, bei den Fachkräften ihr Anliegen zu formulieren oder nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben. In Hilfeplangesprächen erzählen die meisten jungen Menschen, die sich an uns wenden, dass sie das Gefühl haben, es werde zwar über sie, aber nicht wirklich mit ihnen gesprochen.

Diese Rückmeldungen zu erhalten, überrascht uns als Ombudsstelle nicht. Junge Menschen in der Jugendhilfe sowie deren Personensorgeberechtigte oder Vertraute resignieren häufig in der sogenannten „Machtasymmetrie des sozialhilferechtlichen Dreiecks“. Betroffene kennen ihre Rechte oft nicht genau und können demnach auch nicht beurteilen, ob das Handeln der Jugendhilfeträger rechtmäßig ist. Die Durchsetzung von Rechten ist häufig auch mit strukturellen Problemen verbunden. Infolgedessen werden Wünsche und Interessen an die Jugendhilfe vielfach gar nicht mehr verbal geäußert. Eher zeigt sich die Enttäuschung, Wut oder Resignation über das „Nicht-Gehört-werden“ in gefährdeten Hilfeplanverläufen oder gar Abbrüchen.

Die existierenden Beschwerdeverfahren in der Jugendhilfe (verwaltungsrechtliches Widerspruchsverfahren, interne Beschwerdeverfahren der Jugendhilfeeinrichtungen) sind in der Regel mit Funktionsträger*innen der Einrichtungen besetzt. Diese sind überwiegend selbst Gegenstand der Nachfrage, Kritik oder der Beschwerde. Für junge Menschen ist dies erfahrungsgemäß eine zusätzliche Hemmschwelle, um sich dort mit ihren Anliegen hinzuwenden. An dieser Stelle setzt das ombudschaftliche Beratungskonzept an. Es unterscheidet sich damit von reinen Beschwerdeverfahren oder Konfliktlösungsmethoden wie das der Mediation oder einer anwaltlichen Vertretung. An Ombudsstellen können sich junge Menschen in der Jugendhilfe wenden und sich über die ihnen zustehenden Rechte informieren, sich in Interessenskonflikten beraten und unterstützen lassen sowie eine Vertretung ihrer Interessen finden. Zum Konzept der ombudschaftlichen Beratung gehört es, junge Menschen dazu zu befähigen, mit ihren Anliegen gehört und ernst genommen zu werden. Dafür müssen sie in einem ersten Schritt altersgerecht über ihre Rechte und Pflichten in der Kinder- und Jugendhilfe informiert werden. Im nächsten können sie selbst entscheiden, ob sie noch begleitend beraten und sie unterstützt werden wollen. Zudem kann eine Vertretung gegenüber Dritten gewünscht werden und erforderlich sein, um für ein Anliegen einzustehen.

Die ombudschaftliche Beratung muss unabhängig, fachlich nicht weisungsgebunden und lediglich dem „Kindeswohl“ im Sinne des Artikel 3 der UN-KRK the best interests of Child verpflichtet erfolgen können.

Sie erfordert also immer auch eine besondere Haltung gegenüber den Beratungssuchenden. Eine für uns ehrenamtlich tätige Ombudsperson beschreibt es in einem Interview wie folgt: „In der praktischen Arbeit sehr bescheiden ranzugehen, mit gutem Beispiel voran zu gehen, auch wirklich erstmal selber zuzuhören, dass die Menschen, die sich an uns wenden, auch wenn sie an anderen Stellen nicht gehört werden, wirklich das Gefühl bekommen: da hört uns jemand zu. Uns ist wichtig, zu verstehen und es nicht gleich besser zu wissen. Das ist das erste, was Vertrauen bildet. Als weiteren Schritt, gerade junge Menschen oder auch Eltern dabei zu ermutigen und zu unterstützen, dass sie dann auch an anderer Stelle, wo es drauf ankommt und Entscheidungen getroffen werden, tatsächlich auch gehört werden. Und das schildern sie uns ja oft, dass das gerade nicht passiert. Deshalb ist ja auch eine Ombudsstelle so wichtig. Hierfür setze ich auch meine 30-jährige Berufspraxis ein… Das ist so eine andere Haltung, damit auch der Stimme der jungen Menschen und der Familien mehr Gewicht zu geben. Wir müssen dafür sorgen, dass Rechte für die Menschen, die sie haben, auch umgesetzt werden.“ (A. Prinz, ehrenamtliche Ombudsperson seit 2014)

Der rechtliche Hintergrund

Artikel 12 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention sichert jedem Kind, welches fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, sich in allen Angelegenheiten zu äußern. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, dieser Meinungsäußerung in Übereinstimmung mit Alter und Reife des Kindes, ein angemessenes Gewicht zu geben. Abs. 2 gewährt dem Kind das Recht, in allen das Kind berührenden Gerichts- und Verwaltungsverfahren gehört zu werden.

Artikel 12 der UN-KRK in Verbindung mit Artikel 3 Abs. 1, in dem die Vertragsstaaten verpflichtet werden, das Wohl des Kindes bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, vorrangig zu berücksichtigen, bilden im Sinne der UN Kinderrechtskonvention den rechtlichen Rahmen einer ombudschaftlichen Beratung.

Die Ombudsstelle Hessen sichert damit den Beratungssuchenden zu

  • unabhängig, nicht weisungsgebunden und lediglich dem Wohl des Kindes im Sinne des Art 3 der UN-KRK „the best Interest of the child“ verpflichtet zu beraten
  • die ombudschaftliche Beratung als gemeinsamen dialogischen Prozess zu verstehen, in dem die individuelle Selbstbestimmung der Beratungssuchenden besondere Beachtung findet
  • nur auf Wunsch und mit ausdrücklicher Bevollmächtigung der Beratungssuchenden gegenüber Dritten tätig zu werden
  • die Standards für den Einsatz ehrenamtlicher Ombudspersonen einzuhalten, insbesondere nur ehrenamtliche Ombudspersonen mit einschlägiger fachlicher Erfahrung einzusetzen

Recht auf Bildung. Recht auf Partizipation. (Historische) Bildungsausschlüsse von Sinti und Roma

Bildungssituation von Sinti und Roma in Deutschland

„Ich wurde in der Schule fast nicht wahrgenommen. Ich bin in die Schule gekommen und konnte lesen und schreiben. Aber die Frau hat mich so ignoriert, ich wusste nicht einmal was plus und minus ist“, erzählt Verena im Interview mit dem Hessischen Landesverband Deutscher Sinti und Roma über ihre Schulzeit. Die junge Joane berichtet: „Ich wurde schon in der ersten Klasse beleidigt, als ‚Scheiß Zigeuner‘“.

Seit 2018 sind die Kinderrechte und damit das Recht auf Bildung in der Hessischen Landesverfassung verankert. Es wird immer wieder gefordert, diese ins Grundgesetz aufzunehmen. Doch Joanes und Verenas Erzählungen machen deutlich, dass das Recht auf Zugang zu Schule allein nicht zwangsweise gleichberechtigte Bildungschancen ermöglicht.

Die aktuelle Studie „Ungleiche Teilhabe. Zur Lage der Sinti und Roma in Deutschland“ von Romno Kher (2021) zeigt, dass sich die Bildungssituation für Sinti und Roma gegenüber der Erhebung von 2011 deutlich verbessert hat. Dies zeigt sich auch im generationalen Vergleich. In Relation zur Mehrheitsgesellschaft wird die Benachteiligung aber nach wie vor deutlich. Während in der Altersspanne der 26 bis 50jährigen noch 23,9% keinen Schulabschluss erwarben, betrug dieser Wert in der Kohorte der 18 bis 25jährigen lediglich noch 14,9%. Das sind weiterhin mehr als doppelt so viele wie in der Gesamtbevölkerung. Der Anteil der Förderschüler*innen sank von 10,4% auf 5,9% und der Anteil der Befragten, die ein Gymnasium besuchten, stieg von 7,7% auf 15,6%. Damit liegt er allerdings immer noch deutlich unter dem bundesdeutschen Durchschnitt der Gymnasialschüler*innen von 40%. Als ein weiteres Zeichen dieser positiven Entwicklung deuten wir die Gründung des Studierendenverbands Deutscher Sinti und Roma Anfang 2021.

Faktoren des Ausschlusses

Das mehrgliedrige Schulsystem legt bereits frühzeitig die Weichen für die weiteren Bildungs- und Arbeitsmarktzugänge, die hohe Selektivität und die geringen Chancen für Bildungsaufstiege stehen seit langem in der Kritik. Wer im deutschen Bildungssystem nicht auf familiäre Ressourcen, wie eine gute Ausbildung der Eltern, zurückgreifen kann, hat es statistisch nachgewiesenermaßen selbst schwerer, Bildungserfolge zu erzielen. An dieser Stelle machen sich im Falle der Angehörigen der Minderheit auch die Nachwirkungen der NS-Verfolgung und dem jahrhundertelangen Bildungsausschluss bis heute bemerkbar. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden ganze Generationen von Sinti und Roma vom Schulbesuch und damit von einer formalen Schulbildung ausgeschlossen. Ab Ende der 1930er Jahre konnten Sinti des Unterrichtes verwiesen werden und seit 1941 waren sie komplett vom Schulunterricht ausgeschlossen. Die meisten Sinti und Roma wurden im Anschluss mit ihren Familien in Konzentrationslager deportiert. Dieser historische Bildungsausschluss zusammen mit einer hohen Traumatisierung der Überlebenden hat zur Folge, dass sich die intergenerationale Weitergabe und schulische Unterstützung in vielen Familien als strukturelle Herausforderung darstellt.

Gleichzeitig wird es sowohl Sinti- als auch Roma-Familien häufig unabhängig ihrer konkreten Situation pauschal nicht zugetraut, ihre Kinder ausreichend unterstützen zu können, was immer wieder auch als Grund gegen eine Gymnasialempfehlung genannt wird. Aus diesen frühen Eingruppierungen in Schulsysteme und dem fehlenden Zutrauen kommen die Jugendlichen später nur schwer wieder heraus.

Eine weitere große Bildungshürde stellt der gesellschaftlich nach wie vor stark verankerte Antiziganismus dar. In der o.g. Studie von Romno Kher berichteten über 60% der Befragten von Diskriminierungserfahrungen im Kontext Schule, 53,8% gaben an, dass es dabei auch zu Gewalt gekommen sei. Hierbei seien sie „aufgrund ihres ethnischen Hintergrundes als Sinti oder Roma beleidigt“ oder angefeindet worden. Ein Großteil dieser Diskriminierung ging von Mitschüler*innen aus, an zweiter Stelle stehen jedoch Lehrkräfte. 19,2% der Befragten nehmen vor diesem Hintergrund die Schule teilweise als ‚feindlichen Ort‘ wahr.

Beispiel aus der Sozialberatung

Auch in der Sozialberatung des Landesverbandes finden sich regelmäßig Fälle, die diese Ergebnisse bestätigen. Immer wieder werden uns Erfahrungen von Eltern und ihren Kindern geschildert, in denen antiziganistische Vorurteile und Ressentiments dazu führen, dass eine vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit erschwert bis verunmöglicht wird. Nicht zuletzt ist es oftmals das fehlende kritische Bewusstsein der Schule als machtvolle Institution und Ort von Antiziganismus, das es verhindert, dass Schüler*innen erfolgreich und angstfrei an Bildung partizipieren können.

Bildung als „Empowerment-Recht“

Für eine Verbesserung dieser Situation ist es von Bedeutung, dass Bildungsinstitutionen Diskriminierung als Struktur begreifen, die sich in alltäglichem Handeln und unterbewussten Praxen ausdrücken kann. Für den eigenen Anspruch eine „Schule ohne (oder mit weniger) Rassismus“ zu sein, sind sensibilisierende Workshops lediglich ein Anfang. Viel wichtiger ist eine umfassende Sensibilität für diskriminierende Strukturen und eine Offenheit, sich der eigenen (unbewussten) Involviertheit als Institution oder Einzelperson anzunehmen. Hierzu müssten die Themen Antiziganismus und Diskriminierung auch stärker in die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften integriert werden.

Neben einer Reflexionsbereitschaft der Institutionen ist es jedoch ebenso notwendig, die Minderheit zu fördern und eine Sichtbarkeit von erfolgreichen Bildungsbiographien der Minderheit zu stärken. Hierbei sind die 2011 aus der Minderheit heraus gegründete Hildegard Lagrenne Stiftung oder auch der 2021 gegründete Studierendenverband von Sinti und Roma positiv hervorzuheben.

Bundesländer wie Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein besitzen zudem gute Erfahrungen mit sogenannten ‚Bildungsberater*innen‘ aus der Minderheit, diese fungieren mit ihren (eigenen) Bildungsbiographien als Vorbilder für die Jugendlichen, unterstützen diese und übernehmen gleichzeitig eine vermittelnde Rolle zwischen den Schüler*innen bzw. ihren Familien und der Schule. Es wäre sinnvoll, solche Projekte bundesweit auszubauen.

Die UN bezeichnet Bildung als ein „Empowerment-Recht“, welches den Beteiligten die Möglichkeit gibt, an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen gleichberechtigt teilzunehmen. Die Verbesserung der gesellschaftlichen Situation von Sinti und Roma ist somit untrennbar an eine gleichberechtigtere Bildungsteilhabe geknüpft. Hier gibt es bereits wichtige Ansätze, dennoch müssen die bestehenden Konzepte zur Förderung der Minderheit einerseits und solche zur (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit Antiziganismus in Bildungsinstitutionen und Gesellschaft andererseits ausgebaut und institutionalisiert werden.