Recht auf Bildung. Recht auf Partizipation. (Historische) Bildungsausschlüsse von Sinti und Roma

18. Mai 2021

Recht auf Bildung. Recht auf Partizipation. (Historische) Bildungsausschlüsse von Sinti und Roma

Bildungssituation von Sinti und Roma in Deutschland

„Ich wurde in der Schule fast nicht wahrgenommen. Ich bin in die Schule gekommen und konnte lesen und schreiben. Aber die Frau hat mich so ignoriert, ich wusste nicht einmal was plus und minus ist“, erzählt Verena im Interview mit dem Hessischen Landesverband Deutscher Sinti und Roma über ihre Schulzeit. Die junge Joane berichtet: „Ich wurde schon in der ersten Klasse beleidigt, als ‚Scheiß Zigeuner‘“.

Seit 2018 sind die Kinderrechte und damit das Recht auf Bildung in der Hessischen Landesverfassung verankert. Es wird immer wieder gefordert, diese ins Grundgesetz aufzunehmen. Doch Joanes und Verenas Erzählungen machen deutlich, dass das Recht auf Zugang zu Schule allein nicht zwangsweise gleichberechtigte Bildungschancen ermöglicht.

Die aktuelle Studie „Ungleiche Teilhabe. Zur Lage der Sinti und Roma in Deutschland“ von Romno Kher (2021) zeigt, dass sich die Bildungssituation für Sinti und Roma gegenüber der Erhebung von 2011 deutlich verbessert hat. Dies zeigt sich auch im generationalen Vergleich. In Relation zur Mehrheitsgesellschaft wird die Benachteiligung aber nach wie vor deutlich. Während in der Altersspanne der 26 bis 50jährigen noch 23,9% keinen Schulabschluss erwarben, betrug dieser Wert in der Kohorte der 18 bis 25jährigen lediglich noch 14,9%. Das sind weiterhin mehr als doppelt so viele wie in der Gesamtbevölkerung. Der Anteil der Förderschüler*innen sank von 10,4% auf 5,9% und der Anteil der Befragten, die ein Gymnasium besuchten, stieg von 7,7% auf 15,6%. Damit liegt er allerdings immer noch deutlich unter dem bundesdeutschen Durchschnitt der Gymnasialschüler*innen von 40%. Als ein weiteres Zeichen dieser positiven Entwicklung deuten wir die Gründung des Studierendenverbands Deutscher Sinti und Roma Anfang 2021.

Faktoren des Ausschlusses

Das mehrgliedrige Schulsystem legt bereits frühzeitig die Weichen für die weiteren Bildungs- und Arbeitsmarktzugänge, die hohe Selektivität und die geringen Chancen für Bildungsaufstiege stehen seit langem in der Kritik. Wer im deutschen Bildungssystem nicht auf familiäre Ressourcen, wie eine gute Ausbildung der Eltern, zurückgreifen kann, hat es statistisch nachgewiesenermaßen selbst schwerer, Bildungserfolge zu erzielen. An dieser Stelle machen sich im Falle der Angehörigen der Minderheit auch die Nachwirkungen der NS-Verfolgung und dem jahrhundertelangen Bildungsausschluss bis heute bemerkbar. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden ganze Generationen von Sinti und Roma vom Schulbesuch und damit von einer formalen Schulbildung ausgeschlossen. Ab Ende der 1930er Jahre konnten Sinti des Unterrichtes verwiesen werden und seit 1941 waren sie komplett vom Schulunterricht ausgeschlossen. Die meisten Sinti und Roma wurden im Anschluss mit ihren Familien in Konzentrationslager deportiert. Dieser historische Bildungsausschluss zusammen mit einer hohen Traumatisierung der Überlebenden hat zur Folge, dass sich die intergenerationale Weitergabe und schulische Unterstützung in vielen Familien als strukturelle Herausforderung darstellt.

Gleichzeitig wird es sowohl Sinti- als auch Roma-Familien häufig unabhängig ihrer konkreten Situation pauschal nicht zugetraut, ihre Kinder ausreichend unterstützen zu können, was immer wieder auch als Grund gegen eine Gymnasialempfehlung genannt wird. Aus diesen frühen Eingruppierungen in Schulsysteme und dem fehlenden Zutrauen kommen die Jugendlichen später nur schwer wieder heraus.

Eine weitere große Bildungshürde stellt der gesellschaftlich nach wie vor stark verankerte Antiziganismus dar. In der o.g. Studie von Romno Kher berichteten über 60% der Befragten von Diskriminierungserfahrungen im Kontext Schule, 53,8% gaben an, dass es dabei auch zu Gewalt gekommen sei. Hierbei seien sie „aufgrund ihres ethnischen Hintergrundes als Sinti oder Roma beleidigt“ oder angefeindet worden. Ein Großteil dieser Diskriminierung ging von Mitschüler*innen aus, an zweiter Stelle stehen jedoch Lehrkräfte. 19,2% der Befragten nehmen vor diesem Hintergrund die Schule teilweise als ‚feindlichen Ort‘ wahr.

Beispiel aus der Sozialberatung

Auch in der Sozialberatung des Landesverbandes finden sich regelmäßig Fälle, die diese Ergebnisse bestätigen. Immer wieder werden uns Erfahrungen von Eltern und ihren Kindern geschildert, in denen antiziganistische Vorurteile und Ressentiments dazu führen, dass eine vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit erschwert bis verunmöglicht wird. Nicht zuletzt ist es oftmals das fehlende kritische Bewusstsein der Schule als machtvolle Institution und Ort von Antiziganismus, das es verhindert, dass Schüler*innen erfolgreich und angstfrei an Bildung partizipieren können.

Bildung als „Empowerment-Recht“

Für eine Verbesserung dieser Situation ist es von Bedeutung, dass Bildungsinstitutionen Diskriminierung als Struktur begreifen, die sich in alltäglichem Handeln und unterbewussten Praxen ausdrücken kann. Für den eigenen Anspruch eine „Schule ohne (oder mit weniger) Rassismus“ zu sein, sind sensibilisierende Workshops lediglich ein Anfang. Viel wichtiger ist eine umfassende Sensibilität für diskriminierende Strukturen und eine Offenheit, sich der eigenen (unbewussten) Involviertheit als Institution oder Einzelperson anzunehmen. Hierzu müssten die Themen Antiziganismus und Diskriminierung auch stärker in die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften integriert werden.

Neben einer Reflexionsbereitschaft der Institutionen ist es jedoch ebenso notwendig, die Minderheit zu fördern und eine Sichtbarkeit von erfolgreichen Bildungsbiographien der Minderheit zu stärken. Hierbei sind die 2011 aus der Minderheit heraus gegründete Hildegard Lagrenne Stiftung oder auch der 2021 gegründete Studierendenverband von Sinti und Roma positiv hervorzuheben.

Bundesländer wie Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein besitzen zudem gute Erfahrungen mit sogenannten ‚Bildungsberater*innen‘ aus der Minderheit, diese fungieren mit ihren (eigenen) Bildungsbiographien als Vorbilder für die Jugendlichen, unterstützen diese und übernehmen gleichzeitig eine vermittelnde Rolle zwischen den Schüler*innen bzw. ihren Familien und der Schule. Es wäre sinnvoll, solche Projekte bundesweit auszubauen.

Die UN bezeichnet Bildung als ein „Empowerment-Recht“, welches den Beteiligten die Möglichkeit gibt, an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen gleichberechtigt teilzunehmen. Die Verbesserung der gesellschaftlichen Situation von Sinti und Roma ist somit untrennbar an eine gleichberechtigtere Bildungsteilhabe geknüpft. Hier gibt es bereits wichtige Ansätze, dennoch müssen die bestehenden Konzepte zur Förderung der Minderheit einerseits und solche zur (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit Antiziganismus in Bildungsinstitutionen und Gesellschaft andererseits ausgebaut und institutionalisiert werden.

Liebe Leser:innen,

für unseren zweiten Artikel zum Thema Bildung, das uns als Verein ja besonders am Herzen liegt, konnten wir diesmal ein Autor*innen-Trio aus dem hessischen Landesverband der Sinti und Roma gewinnen. Im Begleittext zum Blogbeitrag der GEW hatten wir bereits darauf hingewiesen, dass Bildung im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention ein sehr breit gefasster Begriff ist und hier die Verzahnung der unterschiedlichen Rechtsbereiche besonders deutlich wird. Gute Bildung braucht ein sicheres, gewaltfreies Umfeld, in dem Kinder in ihrer Würde geachtet und respektiert werden, um sich selbst das Lernen zuzutrauen und neugierig zu bleiben.

Um ein solches Umfeld zu schaffen, ist es unerlässlich, dass sich alle, die in lehrenden und leitenden Positionen in Schulen und Kitas Verantwortung übernehmen, auch mit der eigenen Haltung beschäftigen. Und das immer wieder von neuem, denn wie die des Körpers ist auch die pädagogische Haltung etwas, das man nicht einmal hat, sondern etwas, das man immer wieder von Neuem einnehmen und sich dabei – auch auf eigene Vorurteile oder blinde Flecken hin – überprüfen muss. In vielen Schulen, die sich auf den Weg zur „Schule ohne Rassismus“ gemacht haben und natürlich auch in den „Kinderrechteschulen“ unseres Netzwerks und Kitas, mit denen wir arbeiten, ist die Bereitschaft dazu glücklicherweise groß und wir freuen uns, sie bei diesem Prozess begleiten zu können!

Außerdem braucht es ein gutes Verständnis unterschiedlicher politischer, sozialer und historischer Zusammenhänge, um Diskriminierungsmechanismen zu verstehen, die unterschiedliche Minderheiten (oder, wie der Aktivist und Performer Gianni Jovanovic es bezeichnet: „kleine Mehrheiten“) auf verschiedene Weise treffen. Einen kleinen Beitrag dazu liefert dieser Blogbeitrag und natürlich die Bildungsarbeit des Verbands deutscher Sinti und Roma, der z.B. an der im Kinderrechte-Modellschulnetzwerk aktiven Darmstädter Gutenbergschule in Schulprojekttagen zum Thema Antiziganismus aufgeklärt und sensibilisiert hat. Wir wünschen dem Landesverband Sinti und Roma viel Erfolg bei seiner wichtigen Arbeit – und Ihnen eine gute Lektüre.

Ihre Makista-Redaktion

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Autor*innen: Ina Hammel, Christine Kone und Katharina Rhein

Ina Hammel, Christine Kone und Katharina Rhein

Ina Hammel, Christine Kone (ohne Bild) und Dr. Katharina Rhein sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen des Hessischen Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma. Der Verband ist eine in den 1980er Jahren gegründete Selbstorganisation, die sich für die Verbesserung der Situation von Sinti und Roma in Hessen und für eine Aufklärung zum Thema Antiziganismus einsetzt. Christine Kone leitet die Sozialberatung, Ina Hammel ist schwerpunktmäßig für die politische Bildungsarbeit und Dr. Katharina Rhein für die politische Beratung im Verband zuständig, sie arbeiten aber in allen Belangen eng miteinander zusammen. Alle drei lehren an hessischen Hochschulen.