Kinder und Kinderrechte, Privatsphäre und Würde – ein Spannungsfeld jenseits von Schwarz und Weiß
Allein der Begriff „Würde“ und das, was damit gemeint sein könnte, ist so vielschichtig und kontrovers, die Artikel hierüber könnten fast „ein Internet füllen“. Denkt man über das Spannungsfeld von Kindern, Kinderrechten, Privatsphäre und Würde nach, ergibt sich schnell, dass das nicht einfach wird… Denn schon bei einer ersten praxisnahen Betrachtung wird klar: Wir befinden uns hier in einem Sowohl-Als auch, in einem Graufeld und es gibt kein Schwarz oder Weiß. Beispiel Smartwatch: Meine achtjährige Tochter berichtet mir, dass ihre Schulfreundin und Nachbarin Laura ein Handy und eine Smartwatch von den Eltern geschenkt bekommen habe: Grund sei, dass die Mutter ihre Tochter damit in größerer Sicherheit wähne und sie sie auf dem Schulweg verfolgen könne und immer wisse, wo sie sei, ihr damit nichts zustoßen könne, oder wenn doch, die Mutter stets zur Stelle sein kann. Das Spannungsfeld besteht hier zwischen dem Schutz des Kindes vor möglichen Gefahren und dem Recht des Kindes auf Privatsphäre. Und natürlich auch: der Achtung seiner Würde.
Doch von vorne. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so steht es im Grundgesetz. Sie zu achten und schützen ist die zentrale Aufgabe des Staates. Diverse Konventionen der Vereinten Nationen schützen die „Würde des Menschen“ ebenfalls. Immanuel Kant beschreibt „Würde“ in seiner „Metaphysik der Sitten“ als „Unabhängigkeit von eines anderen Willkür“. Judith Butler bezieht sich auf Jacques Lacan, wenn sie erläutert, dass der Mensch dann Würde erhält, wenn er sich seiner Macht, anderen Schaden zufügen zu können, bewusst wird (Butler in „Gefährdetes Leben“). Was also unterscheidet Kinder nun von anderen Menschen und macht sie in dem Sinne besonders anfällig für die Verletzung ihrer Würde? Zunächst einmal sind Kinder in ihrer Existenz abhängig von Ressourcen und Beziehungen, so wie alle anderen Menschen auch. Jedoch sind Kinder noch mehr angewiesen darauf, dass andere, vor allem erwachsene Menschen, ihnen diese Ressourcen und Beziehungsangebote auch zukommen lassen. In dieser größeren Abhängigkeit steckt mit Bezug auf Kant dann eben auch ein größeres Potenzial, von der Willkür anderer abhängig zu sein. Damit wird deutlich: Die Würde von Kindern ist durch die diversen Abhängigkeiten zwischen den Generationen auch einer größeren Spannung unterworfen.
Neben den lebensnahen Situationen im Alltag wie im oben genannten Beispiel, lässt sich das Spannungsfeld der Achtung der Würde von Kindern insbesondere auch im Kontext von Datenschutz feststellen, und dies in ganz verschiedenen pädagogischen, alltagspraktischen oder familienbezogenen Situationen:
- z. B. beim Übergang von der Kita in die Grundschule: Dürfen/Sollen Kinder als ‚unbeschriebenes Blatt‘ zwischen den Institutionen wechseln? Wann macht es Sinn, Daten auszutauschen, und mit welcher Haltung muss dies geschehen, wenn die Institutionen in ihrem Kern unterschiedliche Ausrichtungen haben? Wo liegen Vor-, wo Nachteile, wenn unter Beachtung des Artikel 3 der UN_KRK das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigt wird?
- Weiters bei der Strafverfolgung von Sexualstraftäter*innen im Internet: Welche Mittel dürfen eingesetzt werden? Ist es – zum Beispiel – im Sinne der Würde von Kindern legitimierbar, Fahndungsbilder zu veröffentlichen, auf denen auch Kinder zu sehen sind? Wenn auch anonymisiert: Ist das nicht beinahe ein zweiter Missbrauch, mit mehr Öffentlichkeit?
Interessant ist auch die Frage, wie Kinder und Jugendliche selbst dieses Spannungsfeld sehen, wie sie damit umgehen wollen und was sie sich wünschen, wie damit umgegangen werden sollte. Kinder und Jugendliche nutzen das Internet mittlerweile ja nicht mehr nur zu Bildungszwecken, sondern vor allem zur Beziehungsgestaltung. So sind soziale Medien relevante Orte für Kinder und Jugendliche. Diesen Räumen kommt, als Resonanzraum, wahrscheinlich ähnlich (viel) Bedeutung zu wie realen Begegnungsräumen. Gleichwohl sind sie vielfach einer breiteren (womöglich anonymeren) Öffentlichkeit zugänglich. Und damit ist hier eben auch die Gefahr größer, dass das Recht des Kindes in der Achtung seiner Würde verletzt wird. Und auch bei diesen Überlegungen wird das Spannungsfeld zwischen Schwarz und Weiß, das Graufeld, deutlich.
Natürlich gehen Kinder, Jugendliche und meist auch Erwachsene zunächst nicht von der Möglichkeit des Missbrauchs ihrer Informationen aus. Nur, wer ist hier in der Bringschuld? Sind es die Kinder und Jugendlichen, die ihre Daten schützen müssen? Die Eltern? Die Datenschützer*innen? Vor was und vor wem überhaupt? Und wie können potentielle Täter*innen davon abgehalten werden, Täter*innen zu werden? Ist allen klar, wann sie Täter*innen sind? Was bedeutet das für den Lern- und Entwicklungsauftrag einer Gesellschaft?
In der Hessischen Kinder- und Jugendrechtecharta zeigten Kinder und Jugendliche auf, dass für sie einerseits die Nutzung von Medien selbstverständlich ist; sie fordern zum Beispiel auch ihr Recht auf Privatsphäre in dem Sinne ein, dass Eltern nicht ungefragt ihre Kommunikation über das Handy/Smartphone kontrollieren sollen; andererseits wollen sie vor zu viel und nicht altersgemäßer Werbung oder Gewaltdarstellungen geschützt werden. Klar ist: Simsen, chatten, mailen und sich selbst darstellen und präsentieren in sozialen Netzwerken – all das gehört heute zum Alltag von jungen Menschen. Die digitale Welt strukturiert ihren Alltag und sie nutzen diese Möglichkeiten, um sich zu informieren, zu kommunizieren oder zu unterhalten. Nie waren die medialen Möglichkeiten und Chancen für Kinder und Jugendliche so groß wie heute – und damit auch die Risiken. Zu diesem Dilemma gehört daher auch, dass Eltern in der Lage sein müssen, ihren Rechten und Pflichten als Erziehungsberechtigte auch in Bezug auf die Mediennutzung ihrer Kinder nachkommen zu können, ohne die Privatsphäre von Kindern zu verletzen.
Das scheint des Pudels Kern zu sein: Neben Regeln und Gesetzen, die Kinder und Jugendliche schützen, ist es auch eine breite Auseinandersetzung aller Beteiligten zum Umgang mit den eigenen und den Daten anderer. Eine umfassende Bildung zur Medienkompetenz müsste in den Ausbildungen der Lehrkräfte festgeschrieben werden (das gleiche gilt für die Ausbildung von Erzieherinnen und Sozialpädagogen) und das Thema Medien und Mediennutzung sollte (stärker) in die Unterrichtspläne integriert werden. Vollkommen klar ist, dass das Spannungsfeld von der Achtung der Würde des Kindes und dem Recht auf Privatsphäre noch in vielen anderen Lebensbereichen von Kindern und Jugendlichen eine hohe Relevanz entfaltet. Doch an der Verdeutlichung dieses Graufeldes anhand einer medienbezogenen Auseinandersetzung lässt es sich sehr plakativ und konkret darstellen – ohne eine umfassende Bearbeitung für alle lebensweltlichen Bezüge – unabhängig von Geschlecht, Alter usw. – zu beanspruchen. Vielmehr fordert diese beschränkte Auseinandersetzung dazu auf, sensibel zu werden und zu sein, eine Haltung zu entwickeln, die Kinder in ihrer Würde ernst nimmt und achtet, ihnen das Recht auf Privatsphäre zugesteht und gleichermaßen die Verantwortung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen enthält. Patentrezepte gibt es auch hier nicht, sondern es bedarf eines stetigen Abwägens und Ausjustierens der Rechte für Kinder und Jugendliche – und dies im Sinne eines der tragenden Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention stets auch unter Berücksichtigung der Meinungen und Perspektiven von Kindern und Jugendlichen selber.