Die Folgen des 7.Oktobers für jüdisches Leben in Deutschland aus einer kinderrechtlichen Sicht
Der 7. Oktober 2023 stellt eine Zäsur dar. Das an jüdischen Zivilisten in Israel verübte Massaker, bei dem über 1200 Menschen ermordet und fast 250 Menschen – darunter Babys, Kinder, Jugendliche, Senior:innen – als Geiseln verschleppt wurden ist eine unfassbar grausame Tat. Es gibt vielfältige Gründe dafür, diesen Angriff und die Folgen als unhintergehbaren Einschnitt für jüdisches Leben weltweit zu begreifen, als eine unfassbare Erschütterung, einzigartig und schwerwiegend in seinem Ausmaß – wie es seit der Shoah bisher nicht passiert ist. Die Anschlüsse an die Erinnerungen der Shoah sind von den Tätern bewusst verursacht.
Gewalt und Traumatisierung
Die Wahl des Tages und die Brutalität der Gewalt lösen Erinnerungen aus und haben für Nachkommen der Shoah-Überlebenden, die von transgenerationaler Weitergabe der Traumata betroffen sind, retraumatisierende Wirkung.
In der Gewalt drückt sich auf massive Weise ein Vernichtungs-Antisemitismus aus. Die Hamas machte deutlich, dass sie Jüd:innen das Recht auf Leben abspricht. Die Berichte von der die Würde der Betroffenen in einer kaum aussprechbaren Weise verletzenden, exzesshaften Form, markieren einen Einschnitt. Das Geschehen kann sprachlos machen.
Die Reaktionen weltweit und auch in europäischen und deutschen Städten darauf lassen einen zunächst entsetzt und fassungslos zurück – u. a. wenn mehrere Tage lang spontan Menschen in großen Demonstrationen zusammenkommen, um die Taten zu bejubeln. Eine Lähmung entstand. Solidarität mit Jüd:innen blieb aus.
Fehlende Anteilnahme
Das Gefühl selbstverständlicher Zugehörigkeit, das Vertrauen, sich selbstverständlich sicher und geschützt zu fühlen, wurde Jüd:innen in Deutschland durch diese fehlende klare Anteilnahme entzogen. Eine massive Erschütterung, die bleiben wird, auch wenn Einzelne die Lähmung überwinden. Schon deshalb, weil es trotz des Massakers zu einem massiven Anstieg antisemitischer Gewalt kommt. Hochschulen, Schulen, Wege im öffentlichen Raum, Freizeitveranstaltungen … all diese sind für Jüd:innen (in Deutschland) zu unsicheren Orten geworden. Das hat unmittelbar Folgen für alle in Deutschland lebenden Jüd:innen.
Jüdische Kinder und Jugendliche können nicht mehr von all ihren Menschenrechten Gebrauch machen
Aus einer kinder- und jugendrechtlichen Perspektive gilt es festzustellen, dass dadurch eine Vielzahl konkreter Rechte jüdischer Kinder und Jugendlichen betroffen sind. Verletzt werden oder in Kauf genommen wird, dass sie von ihren Rechten nicht selbstverständlich Gebrauch machen können. Z. B. von ihrem Recht auf Bildung, da es vielen Schulen nicht gelang und vielleicht auch immer noch nicht gelingt, sie zu einem für Jüd:innen sicheren Ort zu gestalten und zu vermitteln, dass sie einen entsprechend achtsamen Umgang mit den Verletzungen garantieren können. Zum Recht auf Bildung kommt das Recht auf Freizeit und Erholung und selbstverständlicher Teilhabe im Gemeinwesen. Auch hier fehlen vielerorts entsprechende Auseinandersetzungen, die jüdischen Familien das Gefühl geben könnten, auch an nicht-jüdischen Orten sicher und geschützt zu sein. Diese Verunsicherung hält an, besteht bereits seit zwei Monaten und verknüpft sich mit Erfahrungen, die ein unbeschwertes Lebensgefühl erschüttern konnten: die Verunsicherung, die ausgelöst wurden durch den Anschlag in Halle, die Zunahme antisemitischer Angriffe im Zuge der Corona-Pandemie und davorliegenden Ereignissen, in denen sich Antisemitismus artikulierte, aber häufig nicht entsprechend ernst- und wahrgenommen wurde.
Dauerhafte Belastungen und Hemmung von Entwicklungsrechten gemäß Landesverfassung
Diese dauerhaften Belastungen tangieren das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit und gefährden das Recht auf Entwicklung, das jedem Kind und Jugendlichen zusteht und ein Wesenskern der UN-Kinderrechtskonvention darstellt. Dies ernst zu nehmen und handlungsleitend zu machen, ist das Mindeste was wir, die wir die Kinderrechte mit einer überzeugenden Formulierung 2018 in die hessische Landesverfassung aufgenommen haben, tun können. Es gilt festzustellen, dass wir in Hessen gerade massiv die Rechte jüdischer Kinder und Jugendlicher verletzen und dass dies ein nicht hinzunehmender Zustand ist. Und zwar ohne ein „Ja, aber…“ Es gibt dazu keine Einschränkung. Es passiert. Man muss es benennen und Strategien entwickeln, die geeignet sind, diesem Missstand zu begegnen.
Betroffene deutlicher in den Blick nehmen
Und da sind wir bei einem weiteren Punkt: es fehlt so oft an Klarheit, zu benennen, was passiert. Wodurch der Eindruck entstehen kann, dass jüdische Opfer nicht zählen.
Welchen Wesensgehalt hatte das Massaker der Hamas? Wer wurde wie ermordet, gequält? Wessen Körper wurden geschändet? Es ist schon bemerkenswert, wie lange es braucht, bis ein öffentliches Interesse daran entsteht, die Betroffenen, ihre Hintergründe und Biografien in den Blick zu nehmen. „Every name counts“ eine zunehmend selbstverständliche Praxis in der Begleitung von Terror- Anschläge blieb hier zunächst aus – und muss sich ein Ernstnehmen immer wieder erstreiten.
Angriff auf ein plurales Zusammenleben
Wen oder was hat die Hamas angegriffen: ein Kibbuz, in denen Friedensaktivist:innen lebten, die nicht selten Menschen aus Gaza aufnahmen, um ihnen Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen. Junge Menschen, die sich auf einem friedlichen Festival trafen, nicht darauf vorbereitet, dass sie brutal überfallen, gejagt und ermordet oder verschleppt werden könnten. Überraschend wenig steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung: wer die Hamas ist, um was es ihr geht, worin ihr Terror besteht? Es ist auch ein Angriff auf ein plurales modernes Zusammenleben. Es ist der Ausdruck eines eliminatorischen Antisemitismus und in der Art des Angriffs zeigt sich die genozidale Gewalt, die bereits in der Charta der Hamas formuliert und zu deren Umsetzung die Hamas ihre Anhänger weltweit auffordert.
Und das Massaker am 7. Oktober war auch ein Femizid. Die Brutalität der Gewalt an Frauen, die Verachtung und Entmenschlichung, die sich in den Taten zeigt, steht nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, wird ausgeblendet, nicht benannt und entsprechend problematisiert. Sie bleibt unsichtbar, sogar am weltweiten Aktions-Tag gegen Femizide.
Empathielosigkeit begegnen
„Die Neunjährige flüstere nur noch. Sie weine sich jeden Abend in den Schlaf. Sie kann nicht aufhören zu weinen. Sie hat Strategien entwickelt, damit allein klar zu kommen, 50 Tage verschleppt, eine – insbesondere für ein Kind – sehr lange Zeit… der Vater berichtet, dass er sie nicht trösten kann, sie lässt es nicht zu.“ Ein Einblick in die Erfahrungen der Angehörigen, deren Kinder freigelassen wurden, einem Bericht der taz- die tageszeitung am 29.11.2023 entnommen.
Projekte in Schulen, in Nachbarschaftszentren, vor Kirchengemeinden – überall an Orten, wo Menschen zusammenkommen und gemeinsam Erfahrungen und Erschütterungen teilen – wären von Anbeginn möglich gewesen. Jüdische Gemeinden hatten sehr schnell Hintergründe zu den als Geiseln verschleppten Menschen zusammen- und Portraits zum Ausdrucken bereitgestellt. Es gibt vielfältige Möglichkeiten einen Bezug herzustellen und sich der Kampagne der Angehörigen der Geiseln anzuschließen: „Bring them home“ Kind- und altersgerecht lässt sich das rahmen und so Kindern und Jugendlichen einen Zugang ermöglichen, mit dem Unfassbaren Kontakt aufzunehmen, eine solidarische Geste zu zeigen und sich als handelnde zu erleben. Die Möglichkeit besteht weiterhin und wird vielleicht auch zunehmend in Anspruch genommen.
Leichter fällt es sicher dort, wo es bereits eine Praxis gibt, jüdisches Leben in seiner ganzen Vielfalt sichtbar zu machen und Antisemitismus wahr- und ernst zu nehmen. Leider fehlt diese Praxis aber an vielen Orten. Hier zeigen sich die Fehlstellen einer postnationalsozialistischen Gesellschaft, die eine angemessene Bearbeitung der bestehenden Gefühlserbschaft noch immer vermissen lässt.
Vielfältige jüdische Perspektiven
Die gegenwärtigen Herausforderungen könnten zum Anlass genommen werden, dem zu begegnen. Das hieße anzuerkennen, wo Unsicherheiten bestehen, diese aufzugreifen und Handlungsroutinen in Frage zu stellen. Sich einzulassen und die vielfältigen, insbesondere von jüdischen Wissenschaftler:innen u. a. im Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung entwickelten Expertisen zu nutzen. Es hieße anzuerkennen, dass es vielfältige jüdische Perspektiven in Deutschland gibt und engagiert dafür zu streiten, dass diese auch irgendwann wieder die Möglichkeit haben werden, sich in ihrer Vielfältigkeit zu erleben. Schon vor dem 7. Oktober wiesen jüdische Aktivistinnen und Fortbildnerinnen mit Bedauern daraufhin, dass sie nicht dazu kommen, zu diesen Themen – wie von ihnen geplant – arbeiten zu können und stattdessen weiterhin vor allem ihre Stimme in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus hörbar machen zu müssen.
Beratungsstelle OFEK unterstützen: Spendenaufruf
Vor allem aber heißt es im Moment, anzuerkennen, dass wir gerade eine massive Welle antisemitischer Vorfälle, An- und Übergriffe erleben – wie die Berichte der Recherche und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) verdeutlichen – und dass davon Jüd:innen massiv betroffen sind. Spezifische Beratungsstellen sind überlastet und schlecht ausgestattet. Darauf wies die Leiterin des Kompetenzzentrums und Geschäftsführerin von OFEK e. V. – Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung Marina Chernivsky kürzlich in einem Podcast des Bundesverbandes der Opferberatungsstellen (VBRG) hin. Sie finanziell zu unterstützen, ist eine erste kleine praktische Sache, die uns möglich ist.
Daher starten wir einen Spendenaufruf für OFEK. Die Beratungsstelle OFEK mit Sitz in Berlin hat in u. a. auch in Hessen Beratungsangebote für den Umgang mit Antisemitismus. Unterstützt werden Betroffene, aber auch Zeug:innen antisemitischer Vorfälle. Hinzu kommt die fachliche Beratung von Institutionen nach antisemitischen Vorfällen. In Folge des 7.Oktobers hat der Bedarf an konkreter Begleitung der von Antisemitismus Betroffenen stark zugenommen und daher sind die Zeiten der Hotline ausgeweitet worden.