Ein guter Zufluchtsort? Kinderrechte gelten für alle!

19. Juni 2020

Ein guter Zufluchtsort? Kinderrechte gelten für alle!

Viele (nach Deutschland) geflüchtete Kinder hören in den Schulen, den Einrichtungen der Jugendhilfe oder von den betreuenden Fachkräften in den Gemeinschaftsunterkünften  zum ersten Mal, dass sie (hier genauso wie in so gut wie allen Ländern dieser Welt) als Kinder besondere Rechte haben. Die erlebte Realität in ihrem Lebensalltag erschwert ihnen allerdings das Verständnis für diese Rechte. Sie erfahren zu oft, wie schwierig das Leben für sie und ihre Familien ist, fühlen sich nicht dazugehörig und erleben, dass für sie scheinbar andere Regeln, Vorgaben und behördliche Anordnungen Vorrang vor den Kinderrechten haben. Das darf nicht sein!

Lange leben Kinder in Angst vor Ausweisung oder mit einem unsicheren Aufenthaltstitel bei uns, weil der Prozess zur Anerkennung sich über eine lange Zeitspanne, manchmal sogar Jahre, hinziehen kann. Der Aufenthaltstitel ist der Anker für mehr Sicherheit, ein Leben ohne die Gefahr der Abschiebung. Die Erfahrungen durch Kriegserlebnisse und die Flucht mit traumatischen Folgen, die neuen Anforderungen an das Leben in den Unterkünften, der ständige Stress mit den Behörden, die Trennung von den Familien prägen das Leben der geflüchteten Kinder (und ihrer Familien). Besonders unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sehnen sich nach ihren Angehörigen, doch die Fragen einer Familienzusammenführung sind wie ein unüberwindlicher Hürdenlauf.

In Artikel 22 der Kinderrechtskonvention heißt es: geflüchtete Kinder erhalten Schutz und angemessene Hilfe bei der Wahrung ihrer Rechte. Der Staat und seine Institutionen müssen an den Schutzmaßnahmen, an der Hilfe für Kinder sowie der Unterstützung – und wenn nötig der Zusammenführung – ihrer Familien mitwirken. Ein Blick auf drei Bereiche der Kinderrechtskonvention, die aus der Sicht von geflüchteten Kindern besonders wichtig sind:

Recht auf Schutz vor Gewalt – Geflüchtete Kinder haben viel Gewalt erfahren, bevor sie bei uns ankommen. Sie kennen die Macht der Herrschenden, die Angst vor Krieg, die Gewalt durch andere, die Ohnmacht der Eltern und Verwandten. Hat das nun ein Ende, wenn sie bei uns ankommen? Das Recht auf Schutz vor Schlägen, das Recht auf die Achtung des Kindeswohls allein reicht nicht aus, um Kinder vor Gewalt zu schützen. Eltern sind oft hilflos, weil sie selbst nicht weiterwissen. Die Macht der Behörden scheint unbegrenzt. Der psychische Druck, dem geflüchtete Kinder und ihre Familien ausgesetzt sind, lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Die Erinnerungen an das Erlebte belasten sie, ebenso die Ungewissheit über ihre Zukunft. Sie erfahren, wie machtlos ihre Eltern dem „Asylsystem“ ausgeliefert sind und dass sie oft traurig sind, vor Verzweiflung mit ihnen schimpfen, sie wegschicken.

Recht auf Teilhabe und Beteiligung – Alle Kinder dieser Welt spielen gerne. Das Fußballtraining oder mit anderen einfach mal durch die Stadt zu bummeln: Geflüchtete Kinder wollen dazugehören, mitreden können. Doch für sie ist die Realisierung dieser Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht so einfach.

Anträge für den Sportverein oder andere Tätigkeiten sind auszufüllen, Genehmigungen abzuwarten. Auch die Einladung zu einem Geburtstag kann zum Problem werden. Das Geld für ein Geschenk reicht nicht, die Einladung zum eigenen Geburtstag ist nicht möglich in der Gemeinschaftsunterkunft und eine Einladung ins Kino für alle geht auch nicht. Da sagen Kinder eher ab, weil die Probleme unlösbar erscheinen. Die anderen Kinder können das nicht verstehen und ziehen sich zurück. Wieder ist man das Kind mit dem Stempel „Flüchtling“. Muss das sein?

Kinder wollen einfach Kinder sein und mit anderen Kindern zusammen etwas erleben. Doch immer wieder stoßen sie an die ungeschriebene Grenze im Alltagsleben zwischen Kindern, die schon immer hier leben und den „Geflüchteten“. Die Kinder und ihre Familien sehen sich einer Vielzahl an Stigmata und Vorurteilen, ja, auch rassistischen Äußerungen ausgesetzt. Und so schreitet die Ausgrenzung weiter voran. Freund_innen werden dann meist andere Flüchtlingskinder.

Recht auf Wohnung und Privatsphäre – Auf das Leben in einer eigenen Wohnung müssen geflüchtete Kinder und ihre Familien oft lange warten.  In den Gemeinschaftsunterkünften leben viele Menschen auf engem Raum zusammen. Alle Bewohner_innen leben unter ständigem Stress. Da bleibt man als Kind besser im eigenen engen Zimmer und verkriecht sich in das Doppelstockbett. Selten können Kinder ungezwungen miteinander spielen, dafür ist kein Platz vorgesehen.

Kinder brauchen Schutzräume für sich und ihre Familien. Kinder brauchen abgeschlossene Wohnungen in Gemeinschaftsunterkünften, solange sie nicht ausziehen können. Denn auf engem Raum unter so vielen Erwachsenen sind Kinder Gefahren und Einschränkungen ausgesetzt. Selbst auf dem Gang über den Flur, in die Waschräume und die Gemeinschaftsküche müssen Kinder oft von erwachsenen Familienmitgliedern begleitet werden.

Kinder brauchen Sicherheit für sich und ihre Familien, zum Schutz vor Gewalt jeglicher Form. Kinder brauchen Ansprechpartner_innen, denen sie sich anvertrauen können und die mit ihnen Lösungen suchen. Kinder brauchen Menschen, die sich für sie einsetzen, damit Lebensbedingungen sich verändern.  Wir brauchen mehr Projekte für ein gutes Miteinander, um Diskriminierung und rassistische Verurteilungen zu vermeiden. Das Recht der Kinder auf sicheren Wohnraum muss in den Vordergrund rücken vor den Vorgaben der Behörden zum Leben in Sammelunterkünften.  

Wenn wir eine offene, demokratische Gesellschaft sein wollen, die die Rechte aller Kinder gleich bewertet und schützt, müssen wir die Ausgrenzung überwinden. Wir alle sind aufgefordert, uns für die Achtung der Kinderrechte von geflüchteten Kindern einzusetzen. Der Kinder, die schon bei uns angekommen sind, aber auch der vielen Kinder, die noch auf der Flucht sind.

Liebe Leser_innen,

in Deutschland gilt gemäß den Internationalen Menschenrechten das Grundrecht auf Asyl bzw. subsidiären Schutz (seit 1993 mit – 2015 nochmals verschärften – Einschränkungen). Die UN-Kinderrechtskonvention befasst sich mit diesem Recht in Artikel 22: „Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder […] als Flüchtling angesehen wird, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen […] festgelegt sind.“ Die Kinderrechte gelten also nicht nur vollumfänglich auch für (begleitete und unbegleitete) geflüchtete Kinder, es müssen auch besondere Maßnahmen zur Gewährleistung aller Rechtsbereiche getroffen werden. Wir sprechen darum nicht nur von Unterbringung, sondern einem „guten Zufluchtsort“ für Kinder, der mehr umfassen muss als ein Dach über dem Kopf, Mahlzeiten und ausreichend Waschmöglichkeiten. Ein guter Zufluchtsort ist ein Ort, an dem alle Kinderrechte gelebt werden. Im Kinderrechte-Index des Deutschen Kinderhilfswerks von 2019 wird Hessen allerdings gerügt: „Asylsuchende Kinder sind [in Hessen] erst dann schulpflichtig, wenn sie einer Gebietskörperschaft zugewiesen sind, also erst, wenn sie aus der Erstaufnahme ausziehen.“ Und das dauert oft –  manchmal Jahre länger als die in der EU-Aufnahmerichtlinie vorgegebenen drei Monate, nach denen eine Beschulung spätestens zu beginnen hätte. Dabei geht um verpasste Bildungschancen, die einen ganzen Lebensweg prägen können, es geht aber auch um sozialen Anschluss, Gelegenheiten zu demokratischer Teilhabe und nicht zuletzt den Kinderschutz.

Über die Konsequenzen der Schulschließungen für die Entwicklung und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wurde in den Monaten der Coronakrise viel diskutiert. Für viele Kinder in Erstaufnahmeeinrichtungen gelten leider durchaus vergleichbare Bedingungen schon seit Langem. Auch die Notwendigkeit von Rückzugsräumen und Privatsphäre wurde in den letzten Wochen der auferlegten „Häuslichkeit“ vielen Menschen deutlich – Kinderschutzstandards, die solche Orte in Geflüchtetenunterkünften verbindlich vorschreiben, fehlen in Hessen aber nach wie vor (vgl. ebenfalls Kinderrechte-Index des DKHW). Die christliche Flüchtlingshilfe Egelsbach/Erzhausen, in der auch die Autorin des heutigen Beitrags lange Jahre als Sozialarbeiterin tätig war und sich nun ehrenamtlich engagiert, möchte es anders machen und sieht sich als einen solchen Zufluchtsort. Sie bietet Möglichkeiten zur Beteiligung, Privaträume mit abgeschlossenen Wohneinheiten und achtet auf eine friedliche, offene Atmosphäre.

Wir wünschen eine gewinnbringende Lektüre, die zum Nachdenken (und vielleicht auch Handeln) einlädt! Ideen, Praxisbeispiele und Kritik haben in der Kommentarspalte Platz.

Ihre Makista-Redaktion

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Autorin: Verone Schöninger

Verone Schöninger

Seit über 30 Jahren begleitet Verone Schöninger geflüchtete Menschen, zunächst als Fachkraft und jetzt als Geschäftsführerin der Christlichen Flüchtlingshilfe in Egelsbach. Besonders die Kinder liegen ihr sehr am Herzen. Sie brauchen einen guten Start in das „neue Leben“. Seit 1987 engagiert Frau Schöninger sich außerdem im Kinderschutzbund auf Ortsebene, als Landesvorsitzende und im Bundesverband.