Alles Familie*

Ein Interview mit Sarah Ponti über (Un-) Gleichbehandlung, Kindeswohl und Paragraphen.
Makista: Das Kindeswohl ist aus Sicht des LSVD explizit ein Argument für die Nicht-Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Elternpaare und von Regenbogenfamilien. Gleichzeitig wird der Begriff von der Gegenseite immer wieder ins Feld geführt und unterstellt, dass es durch das Aufwachsen mit gleichgeschlechtlichen Eltern potentiell gefährdet sei. Wie kann es sein, dass dieser Begriff von beiden Seiten gleichermaßen stark gemacht wird und wie unterscheiden sich aus Ihrer Sicht die Vorstellungen, die mit ihm verbunden werden?
Sarah Ponti: Der Begriff Kindeswohl ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, dennoch gibt es im Bürgerlichen Gesetzbuch Anhaltspunkte für seine Auslegung: wesentlich sind die körperliche, geistige und seelische Unversehrtheit des Kindes, seine finanzielle Absicherung sowie stabile und kontinuierliche Beziehungen zu den Bezugspersonen. Hier setzen unsere Forderungen an: Tausende Kinder wachsen derzeit in Deutschland in Regenbogenfamilien auf. Für das Wohl dieser Kinder müssen verlässliche rechtliche Strukturen geschaffen werden, die alle Elternteile rechtlich anerkennen und die gelebte Familienvielfalt zutreffend abbilden. Die Gegenseite führt oft ins Feld, dass die Entwicklung von Kindern in Regenbogenfamilien beeinträchtigt sein könnte. Internationale und nationale Studien belegen jedoch seit Jahren, dass diese Kinder sich in jeder Hinsicht genauso gut entwickeln wie andere Kinder. Es ist die fehlende rechtliche Anerkennung, die zu Lasten der Versorgung und der Absicherung der Kinder und damit zu Lasten des Wohls der Kinder geht.

© Anke Kuhl, Klett Kinderbuch, 2010
Makista: Die UN-KRK umfasst ja in Artikel 5 einen sehr breiten Begriff von Familie, den ich eher im Sinne einer „Sorgegemeinschaft“ begreifen würde. Wäre das dort ausformulierte Konzept ein guter Bezugspunkt oder nutzt der LSVD Artikel 5 – und die Kinderrechte allgemein – bereits in seiner Argumentation? Was spräche dafür oder vielleicht dagegen, sich darauf zu beziehen?
Sarah Ponti: Artikel 5 ist sehr offen formuliert und erfasst grundsätzlich eine Vielzahl von Familienkonstellationen, auch Regenbogenfamilien. Dies jedoch nur, wenn sie in den Vertragsstaaten bereits anerkannt sind. Für Regenbogenfamilien ist dies in Deutschland leider noch nicht der Fall. Artikel 5 fordert von den Vertragsstaaten nicht die rechtliche Anerkennung bestimmter Familienformen. Für Regenbogenfamilien, insbesondere trans- und intergeschlechtliche Eltern, ist aber das Diskriminierungsverbot in Artikel 2 relevant. Dieser verbietet explizit die Diskriminierung eines Kindes aufgrund des Geschlechts des Kindes oder seiner Eltern. Ein Problem internationaler Menschenrechtsabkommen ist jedoch, dass sie auf die Selbstbindung der Vertragsstaaten setzen und anders als europäisches und nationales Recht kaum durchsetzbar sind.
Makista: An welchen Stellen greift denn die derzeitige Ungleichbehandlung am gravierendsten in die Wirklichkeit betroffener Familien und der Kinder ein?
Sarah Ponti: Stiefkindadoptionsverfahren sind langwierig und oft entwürdigend, kosten viel Zeit und Geld und können zu Konflikten innerhalb der Familien führen. In Mehreltern-Regenbogenfamilien werden einige Elternteile rechtlich gar nicht anerkannt und können deshalb ihrer übernommenen Verantwortung nicht gerecht werden. Trans- und intergeschlechtliche Eltern müssen sich bei Behördengängen zwangsouten, Auslandsreisen sind teilweise unmöglich. Rechtliche und finanzielle Hürden beim Zugang zur Reproduktionsmedizin für gleichgeschlechtliche, trans- oder intergeschlechtliche Eltern erschweren oder verhindern Familiengründungen. Die Rechtsunsicherheit wirkt sich auch im alltäglichen Umgang mit Behörden, Schulen, Vereinen oder Ärzten aus, wenn zum Beispiel Regenbogenfamilien der Familientarif im Schwimmbad verweigert oder ihre Familie in der Kita peinlich tabuisiert wird.
Makista: Was müsste, neben der rechtlichen Gleichstellung, passieren, damit alle Kinder uneingeschränkt ihr Recht auf Familie genießen können?
Sarah Ponti: Diskriminierungen muss durch viel mehr Aufklärung präventiv entgegengewirkt werden. Der LSVD hat Konzepte zur Regenbogenkompetenz entwickelt. Familienvielfalt sollte in Büchern und Spielen in Kitas und Schulen sichtbar sein. Bildungseinrichtungen und Einrichtungen der Familienberatung sind aufgefordert, sich dafür fit zu machen, Regenbogenfamilien und solche, die es werden wollen, in ihrer Arbeit kompetent und vorurteilsfrei anzunehmen. Bund und Länder müssen dazu entsprechende Programme fördern.
Weiterlesen:
- Materialempfehlung zum Thema Vielfalt: Familie, Geschlecht & sexuelle Identität – Bilderbücher, Spiele und Fachliteratur – Empfehlungen des Konsultationsangebots Regenbogenfamilie und des Regenbogenfamilienzentrums
- Kein Kind darf bezüglich seiner Familienform diskriminiert werden – Engagement für Reform im Abstammungsrecht zur Absicherung von Regenbogenfamilien
Ein Kommentar für “Alles Familie*”
Die Auseinandersetzung mit dem Thema Regenbogenfamilien ist inzwischen zweifelsohne als ein Auftrag der schulischen Bildung zu verstehen. Im hessischen Lehrplan Sexualerziehung heißt es: „Ziel der Sexualerziehung ist, Schülerinnen und Schülern ein offenes, diskriminierungsfreies und wertschätzendes Verständnis für die Verschiedenheit und Vielfalt der partnerschaftlichen Beziehungen, sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten in unserer Gesellschaft zu vermitteln. Die Sexualerziehung soll überdies die gesellschaftlichen Realitäten berücksichtigen und wertegebunden sein. Gegenstand der Sexualerziehung in Schulen soll die Vermittlung von Wissen über die Existenz unterschiedlicher Partnerschaftsformen und Verständnisse von Familie, sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten und deren Akzeptanz sein.“ Bevor diese erfreulich klaren Formulierungen im Lehrplan verankert wurden, haben rechtskonservative und evangelikale Gruppen versucht, insbesondere das Ziel der „Akzeptanz“ zu skandalisieren. Glücklicherweise ließ sich die Landesregierung davon nicht beirren, der Lehrplan ist seit 2016 in Kraft. Die von den genannten Kreisen bewusst inszenierte Aufregung hat sich gelegt. Nun kommt es aber darauf an, dass dieser klar formulierte Auftrag an allen Schulen tatsächlich mit Leben gefüllt wird, denn das geschieht bislang leider noch nicht überall.