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Kinder, Kindheiten und Kinderrechte in Zeiten von Corona?!

Zuerst einmal schien es für die allermeisten Kinder und Jugendlichen in der BRD ein aufregender Glücksfall zu sein, als die Entscheidung getroffen war, Kitas und Schulen zu schließen. Damit war klar: Millionen von Kindern und Jugendlichen müssen die Schule oder die Kita frühzeitig vor den anstehenden Osterferien nicht mehr besuchen.

Am Tag der Kita- und Schulschließungen war wohl vielen – weder Kindern noch Eltern – nicht bewusst, auf welch vielfältige Weise Rechte von Kindern in dieser besonderen Situation beschränkt werden würden. Und dies nicht nur mit dem vordergründigen Entsagen des Rechtes auf Bildung.
Aus unserer Sicht handelt es sich nicht nur um vielfache Beschränkungen oder sogar Verletzungen von Kinderrechten. Auch einige „alte“ Themen werden in diesen Krisenzeiten besonders deutlich, so zum Beispiel die allgemeine Vernachlässigung der Perspektive der Rechte der Kinder im politischen und gesellschaftlichen Diskurs.
Bedarfe von Kindern und Jugendlichen werden derzeit hauptsächlich aus der Sicht der Erwachsenen betrachtet, die Entscheidungen sind dadurch oft nicht kindgerecht. Vier Prämissen, die wir als handlungsleitend für eine kindgerechte Gesellschaftspolitik betrachten, wollen wir deshalb zur UN-Kinderrechtskonvention in Zeiten der „Corona-Krise“ zur Debatte stellen:

(1) Kindheit ist vielfältig – Angebote differenzieren und Perspektiven von Kindern einbinden

Das BMFSFJ hat recht schnell eine „Sonderregelung Corona“ ermöglicht. Dabei hat es nach den wirtschaftlichen Bedingungen der Eltern geschaut und zusätzliche Transferleistungen ermöglicht.
Dies reicht aus unserer Sicht jedoch nicht weit genug. Kinder werden hier als Anhängsel von erwerbstätigen Erwachsenen gesehen. Jedoch sind Kinder und Kindheiten heterogen, vielfältig, von ganz unterschiedlichen Kontexten und Begebenheiten geprägt. Kinder und ihre Familien müssen also (nicht nur in Zeiten einer Pandemie) in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt betrachtet werden, denn Kinder haben ganz unterschiedliche Bedarfe.
Diese Bedarfe sind nicht nur an der Verdienstfrage der Eltern zu messen. Die Lebensrealitäten von Kindern hängen von deutlich mehr Faktoren ab, als dass nun 185 Euro einen Unterschied machen könnten. Wo es in der einen Familie an Wohnraum mangelt (der in Zeiten von Corona noch deutlicher wird), gibt es in der anderen Familie vielleicht/ oder auch keinen eigenen Laptop, keinen Kopierer oder Drucker, um entsprechende schulische Arbeitsaufgaben zu erledigen. Anderen Kindern fehlt die tägliche kostenlose warme Mahlzeit. Wieder andere erfahren vermehrte Streitigkeiten oder sogar Gewalt. Es sind Anstrengungen seitens des Bundesfamilienministeriums zu beobachten, die diese Vielfalt Stück für Stück in den Blick nehmen. Wir wollen das gerne bestärken und finden dafür die zweite Prämisse wesentlich:

(2) Perspektiven von Kindern in staatliches Handeln integrieren – statt Krisenmanagement aus Erwachsenensicht

Bei der politischen, medialen und weiteren öffentlichen Debatte scheint uns die Perspektive der Erwachsene (wieder) dominant. Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention sagt aber aus, dass alles staatliche Handeln stets unter dem Vorrang des Kindeswohls stehen muss. Dies gilt auch in Ausnahmezeiten von Corona. Kinder, Jugendliche und ihre Perspektiven werden aber bei der aktuellen Debatte nicht ausreichend in den Blick genommen; und wenn, dann steht vor allem das Thema Kinderschutz (ein wichtiges, keine Frage!) im Fokus. Deshalb gilt es nicht allein die Kinder, deren Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiten, oder Kinder und Jugendliche mit einer potenziellen Kindeswohlgefährdung zu berücksichtigen. Andernfalls scheint es, als würden wirtschaftliche Interessen vor die Bedarfe und Rechte von Kindern vorangestellt werden. Kinder sind mehr als entweder schutzbedürftig oder Lernende, sondern eigenständige Akteur*innen, deren Perspektiven konsequent eingebunden werden müssen. Ansonsten handeln wir aus einer adultistischen Sichtweise erwachsenorientiert und ohne ausreichend die Bedarfe der jüngeren Generation in den Blick zu nehmen.

(3) Familien ermächtigen – nicht entmündigen

Das Recht auf Gesundheit hat in Zeiten einer Pandemie die höchste Priorität. Hier geht es im solidarischen Sinne darum, das Wohl aller Menschen zu schützen und zu gewährleisten. Dem Staat kommt in dieser Zeit eine besondere Pflicht zu: nämlich den Schutz der Gesundheit für seine Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten und – auch für alle Kinder und Jugendlichen – so hoch zu hängen, dass Einschränkungen und staatliche Eingriffe in die Freiheiten der Menschen gerechtfertigt sind. Viele andere Kinderrechte werden dabei zunächst einmal vernachlässigt: Das Recht auf Bildung, das Recht auf Freizeit und Spiel, usw. können in Krisenzeiten nicht mehr in der Weise erfüllt werden, wie dies bisher der Fall gewesen ist. Dabei steht nicht zur Debatte, dass der Schutz der Gesundheit und das Recht auf Gesundheit an allererster Stelle stehen. Klar ist aber auch: wenn der Staat Einschränkungen vornimmt, so hat er an anderer Stelle für Ausgleiche zu sorgen. Wir erfahren dies momentan in der Wirtschaft: mit dem Schutzschirm können Menschen, deren Einkommen von heute auf morgen wegbricht, ihre Existenzen sichern. Wir fragen uns: was ist mit den Kindern und Jugendlichen und den eben erwähnten Rechten? Klar ist, diese gibt es vorübergehend nicht mehr in der bisher da gewesenen Form. Aber: hat der Staat nicht die Möglichkeit und die Pflicht – mit Bezug auf die UN-Kinderrechtskonvention – diese Rechte in neuen Formen zu gewährleisten? Und dies immer unter der Prämisse, dass Kinder und Kindheiten vielfältig und heterogen sind.
Besonders dramatisch scheint vor allem, dass hier nun „alte“ Probleme deutlich werden und sich verstärkt zeigen. Denn diese besondere Situation erfordert besondere Kompetenzen von Familien. Da, wo Schule und Kita sonst verantwortlich für die Umsetzung unterschiedlicher Kinderrechte sind, sind Familien nun auf sich gestellt. Wie sollen Eltern die Rechte der Kinder auf Gesundheit, Freizeit, Spiel nun ermöglichen? Insbesondere zu einem Zeitpunkt, an dem Eltern besondere Sorgen, Ängste und Noten erleben.
Deutlich wird gerade in diesen Krisenzeiten, wie viel Kitas, Schulen und außerschulische Betreuung normalerweise auffangen, insbesondere sozialpädagogisch. Und besonders deutlich werden soziale Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, denn das Wohl der Kinder ist eben zu sehr an die finanziellen Möglichkeiten der Familien geknüpft. Dabei sollte genau das NICHT der Fall sein. Und eigentlich sollten Kitas und Schulen allein nicht das auffangen, wozu im Grunde die Familien ermächtigt sein sollten, unabhängig von deren wirtschaftlicher Lage. Auch „arme“, „bildungsferne“, so genannte „Multiproblem“-Familien wollen in diesen Zeiten für Kinder da sein, ohne dass für die Kinder Nachteile entstehen. Es geht also ganz grundsätzlich darum, Familien nicht nur über außenstehenden Systeme – die in Krisenzeiten nicht mehr oder nur in verminderter Form greifen – zu entlasten, sondern diese zu bemächtigen – im Sinne eines Empowerments, das Familien und damit Kinder und Jugendliche stärkt.

(4) Das Recht der Kinder auf Bildung garantieren – jetzt so wichtig wie nie

An dem Recht auf Bildung wird die unterschiedliche Ausstattung von Familien besonders deutlich. Die Entscheidung, die Kindertagesstätten und Schulen zu schließen, wurde von der Politik schnell und dabei durchaus überlegt getroffen; gleichzeitig standen damit etliche Lehrkräfte vor der Herausforderung, Schulmaterialien und -inhalte innerhalb kürzester Zeit digital zur Verfügung zu stellen. Damit jedoch nicht genug: Denn nicht nur die Lehrkräfte und Lernende, sondern auch Eltern und Erziehungsberechtigte sind damit vor eine vollkommen neue Situation gestellt.
Es ist nicht schwer sich vorzustellen, dass nicht in allen deutschen Haushalten entsprechende Lernorte mit der notwendigen Technik vorhanden sind und nicht alle Eltern die Möglichkeit haben, das Lernen der Kinder auf dem gleichen Niveau wie die Schule zu begleiten.
Es wird abzuwarten sein, mit welchen Fortschritten Kinder und Jugendliche nach dem spontan eingerichteten Homeschooling in die Schulen zurückkehren. Denn deutlich wird schon jetzt: Schule ist immer noch abhängig vom Bildungsstand und von der ökonomischen Ausstattung des Elternhauses. Sollten die Kita- und Schulschließungen anhalten oder in geplanter Form phasenweise über das ganze Jahr fortgesetzt werden, so müssen diese Kausalitäten schnellstens abgemildert werden.
Und das Entscheidende? Kinder- und Jugendbeteiligung strukturell verankern!

Was ist also zu tun? Kinderrechte und vor allem das Wohl des Kindes sollte jegliches staatliches Handeln bestimmen. Die mangelhafte Umsetzung dessen wird vor allem in Krisenzeiten besonders deutlich. Die Bundesschülerkonferenz meldete sich vor allem in Anbetracht der anstehenden Abiturprüfungen zu Wort und setzte sich hier als gewähltes Gremium für die Schülerschaft ein. Eine ebenfalls in der UN-Kinderrechtskonvention festgehaltene Leitlinie – nämlich das Recht auf Partizipation und Beteiligung – wird derzeit so gut wie gar nicht umgesetzt, was auch daran liegt, dass es in Deutschland keine strukturellen Beteiligungsformate für Kinder und Jugendliche gibt. (Vermeintliche) Bedarfe von Kindern und Jugendlichen werden so hauptsächlich aus der Sicht der Erwachsenen generiert. Das ist natürlich nicht falsch, aber eben aus einem konsequenten Verständnis der UN-Kinderrechtskonvention zu kurz gedacht. Kinder und Jugendliche müssen eingebunden sein, müssen mit gedacht und in jeglichem staatlichen Handeln berücksichtig werden, nicht nur in Krisenzeiten, aber dann ganz besonders.

Alle Kinder haben die gleichen Rechte. Kein Kind darf benachteiligt werden.

„Einen Namen haben“, gehört für den sechsjährigen Ben zu den „fünf Dingen, die ein Kind braucht, um gut und glücklich leben zu können.“ Er kann das auch begründen: „Damit wir nicht alle heißen ‚Namensloser‘. Wenn man ‚Namensloser‘ sagt, dann denkt der andere, er ist’s, und dabei ist er ein anderer.“ Und damit trifft Ben das Wesentliche der Universalität der Menschenrechte. Durch sie wird jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit erkannt und gleichzeitig jede_r – unabhängig von Einkommen, Alter, Geschlecht, weltanschaulicher Orientierung usw. – als Rechteträger_in anerkannt. Gerade die Erfahrung von bedingungsloser Liebe und Anerkennung ist ein zentraler Aspekt der Kinderrechte. Allen Kindern gleichermaßen selbstverständliche Zugehörigkeit zu vermitteln und Teilhabe zu ermöglichen ist Anspruch und Herausforderung zugleich. Und dies entsteht nicht in einem luftleeren Raum, sondern geschieht vor dem Hintergrund struktureller Rahmenbedingungen, in denen Ungleichbehandlung und Verletzungen des Rechts auf Nichtdiskriminierung vielfach unhinterfragt eingeschrieben sind. Auch dafür haben Kinder ein gutes Gespür. „Werden wir dann jetzt ganz schwarz, wenn wir keinen Fahrschein haben?“, fragt die fünfjährige Lilly ihre Mutter, als sie über die von den öffentlichen Verkehrsbetrieben angebrachten Erläuterungen der Ahndung im Falle einer U-Bahnbenutzung ohne gültigen Fahrschein sprechen.

Doppelseite von Jörg Mühle und von Zubinski aus dem sehr empfehlenswerten Kinderbuch „Ich so du so – Alles super normal“ von Labor Ateliergemeinschaft, erschienen im Verlag Beltz & Gelberg 2018

Lillys großartige Frage ist von hohem Erkenntnisgewinn: denn natürlich haben Hautfarbe und Nichtachtung der Geschäftsbedingungen absolut nichts mit einander zu tun. Niemand verändert sein Äußeres, wenn er eine Regel übertritt. Das Wort ergibt keinen Sinn und doch verstehen viele was gemeint ist, wenn die Verkehrsbetriebe eine rassistische Konstruktion bedienen, um alle Fahrgäste aufzufordern, Fahrscheine zu erwerben. Es ist sehr wahrscheinlich davon auszugehen, dass die Texter_innen der Marketingabteilung der Betriebe nicht die Absicht hatten, das Recht auf Nichtdiskriminierung zu verletzen. Aber es geschieht und entfaltet Wirkung auf alle Fahrgäste der pluralen Stadtgesellschaft. Dies jedoch in unterschiedlicher Weise: Lilly lernt – je nachdem, wie intensiv sich ihre Begleiter_innen bereits mit den strukturellen Ausschluss-Mechanismen beschäftigt haben, mehr oder weniger kritisch gebrochen, dass Menschen unterschiedlich stark davor geschützt sein können, von anderen (unabhängig von ihrem Verhalten) herabgewürdigt zu werden. Für Lilly, die wie viele Kinder ein starkes Gerechtigkeitsempfinden hat, kann das eine irritierende Erfahrung sein. Potentiell von Alltagsrassismus Betroffene erleben eine konkrete Verletzung ihrer Würde. Denn sie kann sich mit Erfahrungen verbinden, von denen der 1984 geborene Schriftsteller Senthuran Varatharajah in seinem Roman „Vor der Zunahme der Zeichen“ berichtet: „wenn wir im kindergarten menschen mit dunkler haut malten, nahmen uns die erzieherinnen […] den stift aus der hand, und sie nahmen einen hellrosanen aus der buntstiftdose vor uns und sie legten ihn zwischen unsere finger, und ihre hände schlossen sich um sie […], diese farbe nennen wir hautfarbe, sie wiederholten es, diese farbe nennen wir hautfarbe, und wir sprachen es ihnen nach.“

Varatharajahs Erinnerung führt plastisch in die Mechanismen des Otherings ein. Wenn Menschen von (sich selbstverständlich zugehörig fühlenden) Menschen zu Anderen gemacht werden, spielen Fragen von Normalitätsvorstellungen, Zugehörigkeit, Ein- und Ausschluss eine zentrale Rolle. Die dabei entstehenden Verletzungen der Integrität und Würde der davon potentiell Betroffenen sind von den so Sprechenden und Agierenden nicht immer beabsichtigt. Viele Formen von Diskriminierungsgeschehen greifen auf unreflektierte rassistische Wissensbestände zurück. Sie wirken vielfach eher subtil und lassen sich für die so Handelnden, oder auch von den davon Betroffenen, nicht leicht bzw. eindeutig erkennen. Trotzdem, oder vielmehr gerade deshalb, – ist es wichtig, sich den Mechanismen des Ein- und Ausschlusses durch Aussagen, Anregungen und Fragen bewusst zu werden, diese als problematisch zu erkennen und nach alternativen Wegen zu suchen. Dazu gehört auch, dass alle mehrsprachig aufwachsenden Kinder die gleiche Wertschätzung ihrer (Mutter)Sprachen erfahren. Dies ist noch immer nicht selbstverständlich: Nachdem ihr vierjähriger Sohn einige Wochen eine Kindertagesstätte besucht hatte, teilte er seiner Mutter (einer an einer Hochschule lehrenden Erziehungswissenschaftlerin) mit, dass er künftig nicht mehr Türkisch, sondern nur noch Deutsch sprechen wolle. Türkisch „sei keine gute Sprache“, erklärte er seiner Mutter, mit der er bis dahin Türkisch gesprochen hatte. Auf Nachfrage erfuhr sie, dass Bemerkungen einer Erzieherin das Konzept der Zweisprachigkeit in der Familie in Frage gestellt und damit ihren Sohn nachhaltig verunsichert hatten. Unreflektierte Fragen und Bemerkungen können eine massive Einschränkung kinderechtlicher Grundlagen bedeuten. Denn die Bemerkung der Erzieherin veranlasste einen vierjährigen Jungen dazu, einen wesentlichen Aspekt seiner Identität in Frage zu stellen. Fraglich ist, ob die Erzieherin gleichermaßen agiert hätte, wenn die Zweitsprache Französisch oder Italienisch gewesen wäre.

Die Beispiele zeigen erstens, dass Kinderrechte alle etwas angehen, nicht nur diejenigen, die mit Kindern (professionell) zu tun haben. Und sie verraten etwas darüber, wie Kinderrechte – und vor allem das grundlegende Prinzip der Gleichheit – gelernt werden. Zuallererst nämlich nicht durch explizite Wissensvermittlung (so wichtig diese auch ist), sondern das tägliche Erleben und durch die Weise, wie mit mir, über mich und über andere gesprochen wird. Deutlich wird außerdem, wie wichtig eine bewusste Auseinandersetzung mit postnationalsozialistischen und postkolonialen Weltbildern und ihrem Fortwirken im Alltag ist, um die Achtung des Gleichheitsprinzips für alle in Deutschland lebenden Kinder wahr- und ernst zu nehmen.

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