Alle Kinder haben die gleichen Rechte. Kein Kind darf benachteiligt werden.

„Einen Namen haben“, gehört für den sechsjährigen Ben zu den „fünf Dingen, die ein Kind braucht, um gut und glücklich leben zu können.“ Er kann das auch begründen: „Damit wir nicht alle heißen ‚Namensloser‘. Wenn man ‚Namensloser‘ sagt, dann denkt der andere, er ist’s, und dabei ist er ein anderer.“ Und damit trifft Ben das Wesentliche der Universalität der Menschenrechte. Durch sie wird jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit erkannt und gleichzeitig jede_r – unabhängig von Einkommen, Alter, Geschlecht, weltanschaulicher Orientierung usw. – als Rechteträger_in anerkannt. Gerade die Erfahrung von bedingungsloser Liebe und Anerkennung ist ein zentraler Aspekt der Kinderrechte. Allen Kindern gleichermaßen selbstverständliche Zugehörigkeit zu vermitteln und Teilhabe zu ermöglichen ist Anspruch und Herausforderung zugleich. Und dies entsteht nicht in einem luftleeren Raum, sondern geschieht vor dem Hintergrund struktureller Rahmenbedingungen, in denen Ungleichbehandlung und Verletzungen des Rechts auf Nichtdiskriminierung vielfach unhinterfragt eingeschrieben sind. Auch dafür haben Kinder ein gutes Gespür. „Werden wir dann jetzt ganz schwarz, wenn wir keinen Fahrschein haben?“, fragt die fünfjährige Lilly ihre Mutter, als sie über die von den öffentlichen Verkehrsbetrieben angebrachten Erläuterungen der Ahndung im Falle einer U-Bahnbenutzung ohne gültigen Fahrschein sprechen.

Lillys großartige Frage ist von hohem Erkenntnisgewinn: denn natürlich haben Hautfarbe und Nichtachtung der Geschäftsbedingungen absolut nichts mit einander zu tun. Niemand verändert sein Äußeres, wenn er eine Regel übertritt. Das Wort ergibt keinen Sinn und doch verstehen viele was gemeint ist, wenn die Verkehrsbetriebe eine rassistische Konstruktion bedienen, um alle Fahrgäste aufzufordern, Fahrscheine zu erwerben. Es ist sehr wahrscheinlich davon auszugehen, dass die Texter_innen der Marketingabteilung der Betriebe nicht die Absicht hatten, das Recht auf Nichtdiskriminierung zu verletzen. Aber es geschieht und entfaltet Wirkung auf alle Fahrgäste der pluralen Stadtgesellschaft. Dies jedoch in unterschiedlicher Weise: Lilly lernt – je nachdem, wie intensiv sich ihre Begleiter_innen bereits mit den strukturellen Ausschluss-Mechanismen beschäftigt haben, mehr oder weniger kritisch gebrochen, dass Menschen unterschiedlich stark davor geschützt sein können, von anderen (unabhängig von ihrem Verhalten) herabgewürdigt zu werden. Für Lilly, die wie viele Kinder ein starkes Gerechtigkeitsempfinden hat, kann das eine irritierende Erfahrung sein. Potentiell von Alltagsrassismus Betroffene erleben eine konkrete Verletzung ihrer Würde. Denn sie kann sich mit Erfahrungen verbinden, von denen der 1984 geborene Schriftsteller Senthuran Varatharajah in seinem Roman „Vor der Zunahme der Zeichen“ berichtet: „wenn wir im kindergarten menschen mit dunkler haut malten, nahmen uns die erzieherinnen […] den stift aus der hand, und sie nahmen einen hellrosanen aus der buntstiftdose vor uns und sie legten ihn zwischen unsere finger, und ihre hände schlossen sich um sie […], diese farbe nennen wir hautfarbe, sie wiederholten es, diese farbe nennen wir hautfarbe, und wir sprachen es ihnen nach.“
Varatharajahs Erinnerung führt plastisch in die Mechanismen des Otherings ein. Wenn Menschen von (sich selbstverständlich zugehörig fühlenden) Menschen zu Anderen gemacht werden, spielen Fragen von Normalitätsvorstellungen, Zugehörigkeit, Ein- und Ausschluss eine zentrale Rolle. Die dabei entstehenden Verletzungen der Integrität und Würde der davon potentiell Betroffenen sind von den so Sprechenden und Agierenden nicht immer beabsichtigt. Viele Formen von Diskriminierungsgeschehen greifen auf unreflektierte rassistische Wissensbestände zurück. Sie wirken vielfach eher subtil und lassen sich für die so Handelnden, oder auch von den davon Betroffenen, nicht leicht bzw. eindeutig erkennen. Trotzdem, oder vielmehr gerade deshalb, – ist es wichtig, sich den Mechanismen des Ein- und Ausschlusses durch Aussagen, Anregungen und Fragen bewusst zu werden, diese als problematisch zu erkennen und nach alternativen Wegen zu suchen. Dazu gehört auch, dass alle mehrsprachig aufwachsenden Kinder die gleiche Wertschätzung ihrer (Mutter)Sprachen erfahren. Dies ist noch immer nicht selbstverständlich: Nachdem ihr vierjähriger Sohn einige Wochen eine Kindertagesstätte besucht hatte, teilte er seiner Mutter (einer an einer Hochschule lehrenden Erziehungswissenschaftlerin) mit, dass er künftig nicht mehr Türkisch, sondern nur noch Deutsch sprechen wolle. Türkisch „sei keine gute Sprache“, erklärte er seiner Mutter, mit der er bis dahin Türkisch gesprochen hatte. Auf Nachfrage erfuhr sie, dass Bemerkungen einer Erzieherin das Konzept der Zweisprachigkeit in der Familie in Frage gestellt und damit ihren Sohn nachhaltig verunsichert hatten. Unreflektierte Fragen und Bemerkungen können eine massive Einschränkung kinderechtlicher Grundlagen bedeuten. Denn die Bemerkung der Erzieherin veranlasste einen vierjährigen Jungen dazu, einen wesentlichen Aspekt seiner Identität in Frage zu stellen. Fraglich ist, ob die Erzieherin gleichermaßen agiert hätte, wenn die Zweitsprache Französisch oder Italienisch gewesen wäre.
Die Beispiele zeigen erstens, dass Kinderrechte alle etwas angehen, nicht nur diejenigen, die mit Kindern (professionell) zu tun haben. Und sie verraten etwas darüber, wie Kinderrechte – und vor allem das grundlegende Prinzip der Gleichheit – gelernt werden. Zuallererst nämlich nicht durch explizite Wissensvermittlung (so wichtig diese auch ist), sondern das tägliche Erleben und durch die Weise, wie mit mir, über mich und über andere gesprochen wird. Deutlich wird außerdem, wie wichtig eine bewusste Auseinandersetzung mit postnationalsozialistischen und postkolonialen Weltbildern und ihrem Fortwirken im Alltag ist, um die Achtung des Gleichheitsprinzips für alle in Deutschland lebenden Kinder wahr- und ernst zu nehmen.
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2 Kommentare für “Alle Kinder haben die gleichen Rechte. Kein Kind darf benachteiligt werden.”
Danke für den spannenden Artikel! Ich bin selbst Erzieher und mir ist in den Einrichtungen, die ich bisher in meiner Ausbildung und im Berufsleben kennengelernt habe, immer wieder aufgefallen, dass viele Vorurteile (auch) über die dort vorhandenen (oder eben nicht vorhandenen) Bücher vermittelt werden. Was da teilweise in den Bücherregalen steht, ist wirklich gelinde gesagt ziemlich veraltet. Darum habe ich folgende Frage: Gibt es/haben Sie Empehlungen für Bücher, die gesellschaftliche Vielfalt zeigen und nicht Kischees bedienen? Danke und viele Grüße!
Lieber Jörg, eine Liste mit Kinderbüchern findest du in unserem „Kinderrechtebaukasten Kleine Worte – Große Wirkung!“. Und eine wirklich empfehlenswerte Zusammenstellung hat auch die Fachstelle Kinderwelten des Instituts für den Situationsansatz auf ihrer Seite. Schau mal hier: https://www.situationsansatz.de/files/texte%20ista/ista_pdf/Handr_3bis6_2019_10.09.19.pdf Viele Grüße!