Räume schaffen, um Empathie und Solidarität zu ermöglichen

18. Dezember 2024

Räume schaffen, um Empathie und Solidarität zu ermöglichen

„Zäsur“ – am Anfang war das der Begriff. Art, Umfang und damit vermittelte Botschaften des am 7. Oktober 2023 von der Hamas verübten Terroranschlags waren von derart massivem Ausmaß, dass der Begriff der Zäsur passend erschien. Niemals könnte es wieder so sein wie zuvor. Der Terroranschlag mit genozidaler Botschaft, der zu dem größten zusammenhängenden Massenmord an Jüdinnen_Juden seit der Shoah führte, markiert(e) einen tiefen Einschnitt – und hätte als solcher, ausgereicht, um als Zäsur verstanden zu werden. Dazu kam die gigantische Zunahme antisemitischer Gewalt, die sich im Anschluss an das in Israel verübte Massaker weltweit ereignet(e). Auch dies eine Form der Täter-Opfer-Umkehr von fassungs- und hilflos machender Dimension.

Das wiederkehrende Erleben von Ignoranz, fehlender Anteilnahme. Auch das ist Teil der „Zäsur“ – wobei sich an dieser Stelle längst fragen lässt, ob der Begriff der Zäsur überhaupt noch angemessen ist.

Auf diese Erschütterung jüdischen Lebens, mit der die selbstverständliche Existenz jüdischen Lebens elementar in Frage gestellt wird, folgte hierzulande aber kein Aufschrei in der breiten Zivilgesellschaft, sondern das sogenannte laute Schweigen der nichtjüdischen Öffentlichkeit in Deutschland, das für Jüdinnen_Juden wiederkehrende Erleben von Ignoranz, fehlender Anteilnahme. Auch das ist Teil der „Zäsur“ – wobei sich an dieser Stelle längst fragen lässt, ob der Begriff der Zäsur überhaupt noch angemessen ist. In der Verwendung des Begriffs der Zäsur im Sinne eines Wendepunkts steckt die Möglichkeit des Innehaltens, Wahr- und Ernstnehmens, sich zu „schütteln“ und zu überlegen: was geht schief, was könnten, sollten wir hier bei uns anders machen. Dies geschah durchaus vereinzelt, in manchen zivilgesellschaftlichen Initiativen – aber es wurde nicht diskursbestimmend.

Von einer „Ruptur“ spricht Marina Chernivsky im Rahmen der Gedenkveranstaltung des internationalen Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2024.

Von einer „Ruptur“ spricht Marina Chernivsky im Rahmen der Gedenkveranstaltung des internationalen Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2024. Der Begriff beschreibe, „die Zerreißung eines inneren Organs, eines Muskels, eines Gefäßes, eines Bandes oder einer Sehne“ erklärt die Gründerin und Leiterin des Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung. Und ihr am 28. Januar in der Jüdischen Allgemeinen veröffentlichte Beitrag macht deutlich, dass nicht nur die „Qualität und das Ausmaß der gezielt und geplant ausgeübten Gewalt an der wehrlosen israelischen Bevölkerung“, sondern eben auch deren „globale Resonanz“ und das Ausbleiben einer breiten Unterstützung, einer konsequenten Hinwendung zu den von antisemitischen Bedrohungen und Übergriffen zu diesem Erleben/Empfinden (einer Ruptur) beiträgt.

„Die Räume für Jüdinnen_Juden werden immer enger“, berichtet die Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Hessen Susanne Urban. Die fortbestehende und weiterhin wachsende Gefahr antisemitischer Gewalt und Bedrohungen führt dazu, dass Jüdinnen_Juden sehr bewusst Orte wählen und sehr genau überlegen müssen, wo sie sich aufhalten und ihre jüdische Identität bedenkenlos offen leben können.

„Der 7. Oktober … fühlt sich an wie ein Riss, der mit dem Massaker der Hamas begonnen hat und sich seither mit Gewalt weiterzieht. Wie nennt man das Geräusch von langsam zerreißendem Papier?“

Wer nimmt diesen wachsenden Rückzug als bedeutsam wahr? Wer erkennt, welche Relevanz diese Infragestellung selbstverständlicher Zugehörigkeit für das demokratische Miteinander generell hat? Von einem „Riss“ spricht Dinah Riese anlässlich des ersten Jahrestages. „Der 7. Oktober … fühlt sich an wie ein Riss, der mit dem Massaker der Hamas begonnen hat und sich seither mit Gewalt weiterzieht. Wie nennt man das Geräusch von langsam zerreißendem Papier“, wirft die Journalistin in der taz.die tageszeitung eindrücklich die metaphotrische Frage auf. Sie nimmt die Leser*innen mit, an konkreten Beispielen wahrzunehmen, wie sich der „Riss“ durch ihr „Herz arbeitet“: durch eine mangelnde Sensibilität für die noch immer als Geiseln verschleppten oder wenige Tage vor dem Jahrestag von der Hamas brutal ermordeten Menschen, durch die Normalisierung rassistischer und antisemitischer Diskurse und durch das Ausbleiben bedingungsloser Solidarität auch von vermeintlichen Feministinnen nach der systematisch an Frauen und Mädchen verübten sexualisierten Gewalt der Hamas.

Es sollte selbstverständlich sein, Menschen, die angegriffen werden, solidarisch beizustehen und sich dafür konsequent einzusetzen, dass Taten gestoppt und Teilhaberechte gewahrt werden.

Ausmaß und Penetranz der antisemitischen Gewalt können sprach- und hilflos machen. Auch die davon nicht unmittelbar negativ Betroffenen Beteiligten, die Zeug*innen. Insbesondere in einer Gesellschaft, die als postnationalsozialistische noch immer auf unbearbeiteten Gefühlserbschaften sitzt, die zu einer beschämten Lähmung oder – und nicht zu selten – zu einer Schuldabwehr führen kann, der sich wiederum sehr häufig in einem israelbezogenen Antisemitismus entlädt. Sich damit auseinanderzusetzen ist anstrengend. Es nicht zu tun, aber auch. Aus der Arbeit konstruktiver Konfliktbearbeitung wissen wir, dass kalte Konflikte sehr viel Energie kosten und dass sich in einer – auch hitzigen Auseinandersetzung Kraft schöpfen lässt. Von der Chance „willentlicher Selbstbeunruhigung“ spricht Volkhard Knigge. Für den Historiker und ehemalige Direktor der Stiftung Gedenkstätte Buchenwald ist eine konsequente und nicht abschließbare Auseinandersetzung „an historischen Erfahrungen ein Lebenselixier für Demokratie und demokratische Kultur.“

Es sollte selbstverständlich sein, Menschen, die angegriffen werden, solidarisch beizustehen und sich dafür konsequent einzusetzen, dass Taten gestoppt und Teilhaberechte gewahrt werden. Das wiederkehrende Erleben, dass sich im Umgang mit dem 7. Oktober diese Selbstverständlichkeit nicht vollzieht, wird Auswirkung auf das demokratische Zusammenleben aller in der Gesellschaft in Deutschland lebender Menschen und das solidarische Miteinander insgesamt haben.

Eine Atmosphäre, in der die massive Bedrohung scheinbar achselzuckend hingenommen wird, durch die eine selbstverständliche Zugehörigkeit permanent in Frage gestellt wird, ist mit einer an der Kinderrechten orientierten Demokratiepädagogik nicht vereinbar.

In der Menschenrechtspädagogik sprechen wir von drei Ebenen des Lernens: durch, über und für Menschenrechte. Zum Lernen im Sinne eines „Handelns für Kinder- und Menschenrechte“ gehören der Zugang zu Informationenüber das Recht darauf, Rechte zu haben und das garantierte Erleben, im Sinne der Kinderrechtskonvention behandelt zu werden. Eine Atmosphäre, in der die massive Bedrohung scheinbar achselzuckend hingenommen wird, durch die eine selbstverständliche Zugehörigkeit permanent in Frage gestellt wird, ist mit einer an der Kinderrechten orientierten Demokratiepädagogik nicht vereinbar. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist komplex. Die von RIAS und Anderen beschriebene Infragestellung selbstverständlichen jüdischen Lebens aber ist sehr konkret und leicht zu verstehen. Waren in den ersten Monaten nach dem Terroranschlag und den weitergehenden Terroraufrufen der Hamas vor allem antisemitische Raummarkierungen in Hessen zu beobachten, kommt es nun zunehmend zu physischen Bedrohungen und Übergriffen. Dem etwas entgegenzusetzen und sich als solidarisch Handelnde erleben zu können, ist eine wesentliche und wichtige Erfahrung, aus der sich Vertrauen in demokratische Verhältnisse schöpfen lässt.

Wir wollen daher alle Pädagog*innen dazu ermuntern, ihre Perspektive zu weiten und sich in ihrer Aufmerksamkeit auf das Ermöglichen und Erleben solidarischer Aktionen zu konzentrieren.

Im Sinne einer Menschenrechtspädagogik ist es von zentraler Bedeutung, dass Kinder und Jugendliche, sich auch in herausfordernden Zeiten als dem Anderen zugewandte Subjekte erleben können. Wir wollen daher alle Pädagog*innen dazu ermuntern, ihre Perspektive zu weiten und sich in ihrer Aufmerksamkeit auf das Ermöglichen und Erleben solidarischer Aktionen zu konzentrieren. Dabei können Beteiligte, aber auch Betroffene, Motoren sein und der Gewalt etwas Solidarisches entgegensetzen. Z. B. wie in dem Kinderbuch „Für jeden ein Licht. Ein Bilderbuch gegen den Antisemitismus“ von Lee Wind und Paul Zelinski beschrieben. Hier ergreift der von einem antisemitischen Übergriff betroffene Junge die Initiative, der sich seine Freundin und später viele Akteure des Gemeinwesens anschließen.

In der berechtigten Empörung über die fehlende Solidarität der nichtjüdischen Zivilgesellschaft gerät häufig aus dem Blick, wie viel solidarisches Handeln innerhalb der vielfältigen jüdischen Community geschieht.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, kritisch zu prüfen, wie wir was wahrnehmen. In der berechtigten Empörung über die fehlende Solidarität der nichtjüdischen Zivilgesellschaft gerät häufig aus dem Blick, wie viel solidarisches Handeln innerhalb der vielfältigen jüdischen Community geschieht. Die Initiativen und Aktionen der Gemeinden, Vereine, Beratungs- und Bildungseinrichtungen ermöglichen, dass jüdisches Leben in Deutschland weiter existieren kann. Aus diesen Strukturen heraus sind beispielsweise die Beratungsstrukturen von OFEK entstanden. Das Wort „Ofek“ ist hebräisch und bedeutet „Weite“ oder „Horizont“. Darin drückt sich der die Handlungsfähigkeit stärkende Ansatz der Arbeit aus. Durch die Unterstützung der Beratung bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung soll sich ein Horizont über das Ereignis hinaus eröffnen können. Von Anfang an unterfinanziert stützen staatliche Fördermittel mittlerweile eine anlassbezogene Beratung in der Auseinandersetzung mit antisemitischen Vorfällen. Diese nehmen auch nichtjüdische Menschen in Anspruch. Die Notwendigkeit einer anlassunabhängigen, psychosozialen Beratung von Jüdinnen_Juden, in denen mit dem Terroranschlag der Hamas und seinen Folgen transgenerationale Traumata aufgebrochen sind, wurde bisher als nicht förderwürdig erkannt. Die Nachfrage ist groß. Ein jüdisches Therapeut*innen-Team hat sich bei OFEK zusammengefunden, um diese – bisher nur von Spenden getragene und daher oft ehrenamtliche -Arbeit zu leisten.

Das Wort „Ofek“ ist hebräisch und bedeutet „Weite“ oder „Horizont“.

OFEK unterstützen kann man mit einer Spende (bitte „Spende“ als Verwendungszweck angeben):

OFEK
Berliner Sparkasse
IBAN: DE29 1005 0000 0190 9049 41
BIC: BELADEBEXXX

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Autorin: Christa Kaletsch

Christa Kaletsch

Christa Kaletsch ist freie Autorin und Fortbildnerin in den Bereichen konstruktive Konfliktbearbeitung sowie Demokratie- und Menschenrechtsbildung und seit vielen Jahren tätig im „beratungsNetzwerk hessen. Gemeinsam für Demokratie und gegen Rechtsextremismus“. Sie ist Vorsitzende von Makista e. V.